Samstag, 7. Januar 2017

Wir fangen schon mal an

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Weihnachtsdeko vom Waldkindergarten

Das Motto habe ich aus Harald Welzers Buch Selbst denken - eine Anleitung zum Widerstand übernommen. Es könnte mein Jahresmotto werden. Das heißt: wir können weiterhin den katastrophalen Zustand der Erde beklagen, anprangern und uns darüber empören. Das hat bisher nichts zum Guten geändert. Oder wir nutzen unsere Phantasie, unsere Kreativität, um etwas Neues, Schönes, Lebensförderndes in die Welt zu bringen - einfach schon mal anfangen eben. Es gibt ja genug Beispiele dafür, nur daß die Mainstream-Medien eher über das Üble, Ungenießbare, Schreckliche berichten.
Wer sich beschwert, beschwert sich. Das habe ich mal von einem meiner Lehrer gehört und finde es griffig und richtig. Das viele Gemecker, daß ich bei der Arbeit höre und an dem ich zugegebenermaßen oft genug gewohnheitsmäßig teilnehme, macht ja weder eine gute Stimmung noch schafft es gesündere Verhältnisse.
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Freitag hatte der heftige Sturm sich gelegt und einen strahlend blauen Himmel zurück gelassen. Es war ganz still, als ich morgens in den Garten ging. Als ich mein Ohr ans Flugloch der Bienenstöcke legte, hörte ich ein feines unablässiges Summen. Das macht mich glücklich. Nur das dritte Volk war still. Ich gehe schon länger davon aus, daß es nicht überlebt hat.
Später habe ich das Ende der Rauhnächte auf angemessene Weise zelebriert. Da ich Norddeutsche bin, ist es für mich nicht der Perchtentag, sondern gehört der uralten Frau Holle. Ich habe die Weihnachtsdeko gut verpackt und die ganze Wohnung geputzt. Dann habe ich sie sowie die beiden Schuppen ausgeräuchert und den wilden Wesen etwas zu essen unter den Holunder im Knick gestellt.

Sonntag, 1. Januar 2017

Silvester...

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...bedeutet mir schon lange nichts mehr. Ich habe auch keine guten Vorsätze fürs neue Jahr und bin den konditionierten Reflex leid, jeder Person, die meinen Weg kreuzt, ein gutes neues Jahr zu wünschen. Eine Ausnahme ist meine Mutter, weil ich weiß, daß ihr das wichtig ist. Aber dieses Jahr ist meine alte Mutter - sie wird in wenigen Monaten neunzig! - mit einer Reisegruppe unterwegs. Da sie ein Handymuffel ist, konnte ich ihr nur eine Nachricht auf ihrem Anrufannehmer hinterlassen.
Ich war heute Nacht bei J. und I. in Kiel. Wir haben gut gegessen, tiefe Gespräche geführt, ausgiebig und laut gelacht und uns um Mitternacht das Feuerwerk angeschaut, bis es mir zu kalt war und meine ohnehin gereizten Bronchien den durch die Straßen wabernden Rauch nicht mehr mochten. Dann fuhr ich durch die Nacht nach Hause und schlief im warmen Wohnzimmer auf der Gästematratze, weil es mir im Schlafzimmer zu kalt war. Skadi legte sich quer auf meine Unterschenkel. Das mögen wir beide gern.
Heute hatte ich einen ruhigen Tag, an dem ich mich mit den neuen Kalendern beschäftigte und mit gutem Gefühl daran dachte, daß ich Freund*innen habe, in deren Gegenwart ich ganz ich selbst sein kann, direkt und schnörkellos, auch wenn es um schwierige Themen geht. Das ist ein großes Geschenk.
Meine Mutter sagte neulich, sie wolle keinen Mann mehr, weil sie nicht länger zu Kompromissen bereit sei. Das kann ich gut verstehen. Zu Kompromissen bin ich schon lange nicht mehr bereit, weder mit noch ohne Mann.
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Freitag, 30. Dezember 2016

Den Raum weiten

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Der Stier/das Rind von Lascaux ist ein Geschenk meines Sohnes zu Weihnachten. Auch meine Tochter und ihr Freund waren da, während ich mich über die Feiertage vorwiegend in der Klinik aufhielt. Unglücklicherweise fiel Weihnachten dieses Jahr genau auf mein Dienstwochenende. Am Montagabend brach ein orkanartiger Sturm aus. Auf dem Heimweg fiel bei kräftigem Regen mein rechter Scheibenwischer aus. Wenigstens blieb mir der auf der Fahrerseite.
Seit Mittwoch habe ich frei und genieße endlich die Rauhnächte. Ich habe viele Bücher bekommen. Mit denen von meinem Geburtstag und einigen selbstgekauften habe ich jetzt einen so großen Stapel, daß ich mindestens ein Jahr brauchen werde, um sie zu lesen. Passend zu den Rauhnächten habe ich mir Susanne Wenger - ein Leben mit den Göttern von Gert Chesi vorgenommen. Dieses Buch gibt es nur noch antiquarisch und ich träume schon seit zwanzig Jahren davon, es zu lesen. Susanne Wenger ist als junge Frau nach Nigeria gegangen und dort geblieben. Sie wurde in den Orisha-Kult der Yoruba eingeweiht und wirkte als Künstlerin (der heilige Hain von Oshogbo) und Priesterin. Sie wurde mehr als neunzig Jahre alt.
Beim Lesen dachte ich wieder mal, daß sich Religion/Spiritualität aus der Landschaft heraus entfaltet. Deshalb scheint es mir problematisch, einen fremden Kult zu übernehmen. Wir westlichen Menschen sind in spiritueller (und sonstiger Hinsicht) Entwurzelte, aber die Sehnsucht nach Verbindung zu den vielfältigen Ebenen der Welt bleibt ja bestehen, ob bewusst oder nicht. Die Folge ist, daß wir dazu neigen bei anderen Kulturen zu klauen. Nichts gegen Schwitzhütten- und Pfeifenzeremonien, aber sie gehören eigentlich den First Nations von Nordamerika. Vor vielen Jahren habe ich mal das Buch eines US-Amerikaners gelesen, der sich mit dem Orisha-Kult befasst und die dort üblichen Tieropfer für Weiße so übersetzt: Wenn eine*r einen Wunsch erfüllt bekommen will, soll er Fleisch aus dem Supermarkt kaufen und opfern. Das war bis jetzt das Groteskeste, was ich zur Übernahme fremder Religionen gelesen habe.
Susanne Wenger nennt jede Form von Missionierung, wie sie sowohl durch Christen als auch Moslems in Afrika mehr oder minder massiv praktiziert wurde und immer noch wird, einen schweren Angriff auf die Würde des Menschen. Sehr wahr und klar ausgedrückt!
Die Yoruba auf der anderen Seite haben das Fremde, das zu ihnen kam, integriert. So haben auch christliche und muslimische Elemente in ihrem Pantheon Platz. Das findet man besonders deutlich beim Voodoo der nach Afrika zurückgekehrten ehemaligen Sklaven, bei Macumba und Candomblé in Brasilien und bei der Santería auf Kuba: ihre Altäre sind voller multireligiöser Symbole, sie enthalten sowohl die Wesenheiten ihres Kultes als auch Jesus, Maria und diverse katholische Heilige.
Für mich ist das ein Abbild des Universums, in dem alles Platz hat. Und das wünsche ich mir für unseren irdischen Mikrokosmos ebenso: daß er eine Heimat ist für alle Formen der Rückbindung an die uralten lebendigen Kräfte.
Die Voraussetzung dafür ist die Weitung des eigenen inneren Raums, bis nichts mehr ausgeschlossen sein muss.
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Die Rinder im Naturschutzgebiet am Schmoeler Strand entdeckte ich heute Nachmittag. Es war sehr kalt, und ich hatte dummerweise mein Wolltuch für Kopf und Hals vergessen. Auf dem Rückweg beobachtete ich lange einen rüttelnden Falken und staunte über seine Fähigkeit, mit schnellen Flügelschlägen in der Luft stehen zu bleiben. Ute Schiran setzte die Valkyren mit den Falken gleich und beschrieb sie als Wesenheiten, die im Schwarm auftreten. Diese Interpretation teile ich nicht: in der germanischen Mythologie treten die Valkyren oft in Gruppen auf, die die Toten einsammeln. Aber Falken sind Einzelgänger.

Sonntag, 18. Dezember 2016

Schenk-Ökonomie

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Gestern schenkte ich B. eine von meinen Rasseln. Bei mir haben sich im Laufe der Jahre einige angesammelt, aber ich benutze nur die mit der eingebrannten Schlange, die eine junge Frau aus dem Öko-Dorf Sieben Linden gefertigt hat. Ich verschenke sehr gern Dinge, die ich nicht mehr brauche.
Das ist praktizierte Schenk-Ökonomie, und zusätzlich zur Freude, die mir das Schenken macht, macht es mir noch große Spaß, den Wachstumswahn der Wirtschaft nicht zu bedienen.
Vor vielen Jahren habe ich mich durch Genevieve Vaughns Buch For-Giving gekämpft. Da geht es um Schenkökonomie, allerdings ist es wahnsinnig kompliziert geschrieben.
Harald Welzer entwirft ein Zukunftsmodell, in dem es als cool gilt, nichts Neues mehr zu kaufen, kaputte Dinge zu reparieren und Zeit statt Geld zu haben. Leute, die sich teure Luxus-Schlitten kaufen, gelten als uncool. Die Idee gefällt mir.
Wahrscheinlich liegt es an meinem fortgeschrittenen Alter, das mein Interesse an Mode gegen Null geschrumpft ist. Vieles, was als modern gilt, finde ich nicht schön. Außerdem rennen fast alle gleich rum, wenn wieder ein neuer Trend auf den Markt kommt. Immer wichtiger wird mir, daß Sachen aus gutem Material sind und lange halten. So hat sich ein umfangreicher Fundus an Klamotten in meinem Kleiderschrank angesammelt, die schon viele Jahre alt sind. Manchmal rangiere ich etwas aus, was kaputt ist oder was ich nicht mehr tragen möchte.
Ich erinnere mich an meine Jugend, als es schon mal als cool galt, alte Sachen zu tragen. Das war während der Hippiezeit. Man hat alte Kleidung umgefärbt oder mit Perlen bestickt, um sie aufzupeppen. Aber sie durfte ruhig getragen aussehen. So habe ich eine dunkelblaue Strickbluse mit einem schönen Ajourmuster von meiner Mutter weitergetragen.
Früher habe ich sogar meine Socken und Unterwäsche gestopft, wenn da Löcher drin waren. Das war für die Generation meiner Oma und Mutter ganz selbstverständlich.
Ansonsten stricke ich unheimlich gern: es gibt ganz tolle Anleitungen im Internet (ravelry.com). Stricken ist eine uralte Handwerkskunst: sie hält die Hände beschäftigt, und der Geist kann auf Reisen gehen. Eine Strickdesignerin spricht sogar von Stricktherapie - gar nicht so abwegig. Stricken, Weben und Spinnen galten als magische Tätigkeiten: die monotone Tätigkeit kann in einen anderen Bewusstseinszustand führen, in dem Magie gewirkt werden kann. Sehr eindrucksvoll beschreibt Marion Zimmer Bradley das in Die Nebel von Avalon, als Morgaine le Fay am Webstuhl einen tödlichen Zauber wirkt.
Noch mal zur Schenkökonomie: Wenn mir mein Nachbar T. ein stabiles Gestell für den Top bar hive baut, wenn meine Nachbarin M. sich um Skadi kümmert, während ich auf Reisen bin, wenn ich im Gegenzug ihre Blumen gieße und ihre Post aus dem Briefkasten hole, wenn sie weg ist, wenn ich den Geflüchteten in Selent Deutsch beibringe - all das ist Schenkökonomie. Es gibt nicht direkt etwas zurück, es ist kein Tausch. Aber es gibt diese Freude darüber, etwas Gutes und Sinnvolles zu tun, was nicht nur mir selbst, sondern auch den Anderen gut tut. Bei dieser Art von Ökonomie steht Beziehung an erster Stelle, nicht Gewinn, nicht Profitmaximierung.
Irgendwie gehört in diesen Rahmen auch das Paket, das ich von meinem Bruder und meiner Schwägerin aus Schwaben geschickt bekommen habe: Spätzle, Alb-Leisa (Linsen, die in der Schwäbischen Alb angebaut werden), Salzbrezeln. Jetzt überlege ich, was ich den beiden aus dem Norden schicken kann: vielleicht Sauerfleisch im Glas, Kieler Sprotten und Kohlwürste oder die leckeren handgefertigten Pralinen von Schokodeern aus Kiel.
Schenken macht einfach Spaß!
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Dienstag, 13. Dezember 2016

Leitkultur

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Als ich am Freitag in den Nachtdienst ging, hatte ich plötzlich fast keine Stimme mehr. Die Patienten, denen ich mich nur mühsam mitteilen konnte, hatten sehr viel Mitgefühl. Der weitgehend stimmlose Zustand verschlechterte sich bei jedem Versuch zu sprechen. Mein alter Verbündeter Huflattich half gegen das raue und gereizte Gefühl im Hals. Heute sind meine vier Nächte rum und ich kann wieder normal sprechen. Was soll mir das sagen? Vielleicht einfach mal die Klappe halten?

Ich lese gerade ein großartiges Buch: Selbst denken - eine Anleitung zum Widerstand von Harald Welzer. Es geht um Weltrettung, Klimawandel, grünen Konsum. Alle kriegen ihr Fett weg: die Wirtschaft natürlich, die Politiker, aber auch Greenpeace und andere bemühte Organisationen, ebenso wir alle als VerbraucherInnen, die mit unserem Konsumverhalten den nachkommenden Generationen das Leben auf dieser Planetin schwer wenn nicht unmöglich machen. Harald Welzer scheut sich auch nicht, sich selbst vorzuführen. Und er zeigt, daß wir es sein lassen können, von Politikern oder Großkonzernen Umdenken zu fordern, weil es aus der Richtung nicht kommen wird/kann. Aber sehr wohl und nur von uns, den sogenannten Normalverbrauchern.
Ich reagiere auf das Wort Leitkultur gewöhnlich mit Brechreiz. Aber Harald Welzer definiert dieses Wort auf eine Weise, die mir richtig gut gefällt: "Leitkultur des Verbrauchs und der Verschwendung".
Sehr schön auch dieses Zitat: "Utopien können gefährlich werden, wenn sie in die Hände von Leuten geraten, die aus ihnen mit aller Macht Wirklichkeit machen wollen. Aber Utopien sind ein großartiges Mittel, um Denken und Wünschen zu üben: sich einen wünschbaren Zustand in einer denkbaren Zukunft zu imaginieren, macht den Status quo zu lediglich einer Variante von vielen möglichen Wirklichkeiten."
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Meine Ahnung, daß die schönen Stearinkerzen, die ich seit einigen Jahren statt der Paraffinkerzen benutze, aus Palmöl bestehen, hat sich bestätigt. Also ist Umdenken angesagt: keine Stearinkerzen mehr! Das heißt dann auch, daß nicht mehr täglich auf meinem Küchentisch eine Kerze brennt, sondern nur noch zu besonderen Anlässen. Zur Zeit nehme ich die Bienenwachskerzen, die B. und ich im letzten Jahr aus dem Wachs unserer Bienen gefertigt haben. Die sind bald zu Ende. Kerzen aus Sonnenblumenöl sind auch keine Option, weil ich es einfach pervers finde, ein Lebensmittel zum Verbrennen anzubauen. Bienenwachs fällt nicht genug an, da ich meinen Bienchen ja nur allenfalls eine Wabe pro Volk wegnehme, um Honig zu bekommen.
Eine Möglichkeit wäre noch recyceltes Fett. Ich hatte vor einigen Jahren mal Teelichte aus dieser Substanz, die ich aber nicht sehr befriedigend fand: sie brannten nicht gut, und die Dochte soffen immer wieder ab.

Montag, 12. Dezember 2016

Klarstellung

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C., die meinen letzen Post gelesen hat, hat mein Statement über astrologische Vorhersagen so verstanden, daß ich nicht an Horoskope glaube.
Das stimmt so nicht: ich glaube nicht an Vorhersagen, weil die Zukunft nichts Festgeschriebenes ist, sondern sich aus vielen Möglichkeiten immer wieder neu entwickelt. Die AstrologInnen, die das machen, halte ich für ziemlich größenwahnsinnig. Ich hatte vor dreißig Jahren mal mit einem dieser Art zu tun: nichts von dem, was er mir mit großer Überzeugtheit vorhergesagt hat, ist jemals eingetreten.
Ich glaube aber sehr wohl, daß Horoskope etwas über Persönlichkeitsmerkmale, Lebensstrategien, Neigungen und vielleicht auch Tendenzen aussagen können. Und wenn ich mir mein eigenes Geburtshoroskop ansehe, finde ich darin meinen familiären Hintergrund und meine Lebensthemen gut gespiegelt.
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Samstag, 10. Dezember 2016

Achtung

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In der neuen Brennstoff geht es um Achtung, Be-Achtung, Missachtung, Verachtung.
Achtung wird zu den menschlichen Grundbedürfnissen gezählt wie Essen, Trinken, Atmen. Nachdenklich gemacht hat mich die Äußerung, daß das Erstarken rechter Parteien in Europa und die Wahl von Trump mit dem Nicht-Beachten bzw. der Verachtung großer Teile der Bevölkerung in Verbindung gebracht wird. Ich denke mal wieder an meinen Opa, der Nazi wurde, nachdem er durch die Weltwirtschaftskrise in den 20er Jahren arbeitslos wurde. Er hörte eine Rede von Hitler, der Arbeit und Gerechtigkeit versprach, trat in die NSDAP ein und wurde SA-Mann. Als die Nazis an die Macht kamen, bekam mein Opa einen guten Job mit diensteigener Wohnung. Also glaubte er weiterhin an Hitler. Mein Opa war kein dummer Mensch. Er hat wie viele andere damals auch die bittere Erfahrung gemacht, plötzlich nicht mehr gebraucht zu werden. Er wusste nicht, wie er seine Familie über die Runden bringen sollte. Meine Mutter hat erzählt, wie ihre Mutter weinte, wenn die Nachbarn mal wieder eine Tasche mit Lebensmitteln für sie vor die Wohnungstür stellten.
Natürlich ist das alles keine Entschuldigung. Natürlich muss einer, der die Faschisten unterstützt, dafür die volle Verantwortung tragen.
Das ändert aber nichts daran, daß auch heute immer mehr Menschen die Erfahrung machen müssen, daß sie nicht gebraucht werden. Sie verlieren ihre Jobs und erfahren, daß Geld wichtiger ist als Menschen. Sie werden zu Arbeiten genötigt, die sie nicht mögen. Sie müssen sich dem demütigenden Procedere bei den Job-Centern unterwerfen. Sie werden mit einem erbärmlich niedrigen Unterhalt mit dem zynischen Namen Hartz IV abgespeist, erfunden von einem VW-Manager, der mit Sicherheit ein größeres Jahresgehalt bekam als ein normaler Mensch jemals ausgeben kann. Die damalige Regierung aus SPD (ehemalige Arbeiterpartei) und Grünen hatte ihm den Auftrag zu diesem entwürdigenden Machwerk gegeben.
Es ist leicht zu sagen, daß es Dumpfbacken sind, die auf Pegida-Demos gehen und AfD wählen. Zugegeben, ich habe das auch an dieser Stelle schon gesagt. Das Problem ist nur: die, die nicht be-achtet werden, sind diejenigen, die uns unter Umständen eine neue Form von Faschismus bringen könnten. Weil sie sich nach der alten Sicherheit sehnen, weil sie klare Verhältnisse wollen, weil sie sich für die Miss-Achtung rächen wollen, weil sie den Versprechungen der Demagogen vom Schlag Donald Trump, Marine le Pen, Geert Wilders und Beatrix von Storch glauben. Man kann also sagen, daß der Neoliberalismus mit seiner Menschen-Verachtung der Wegbereiter eines neuen Faschismus sein könnte. Statt den wahren Feind zu erkennen, sehen nicht beachtete Menschen dann z. B. die Flüchtlinge, die Ausländer als ihre Feinde. So funktioniert auch die israelische Politik: indem die Palästinenser in ihrem Existenzrecht nicht wahrgenommen werden, indem immer weiter auf ihrem Gebiet neue Siedlungen für Israelis gebaut werden, werden sie mit Terror antworten.
Auch der IS funktioniert nach diesem Prinzip: er will einen sogenannten Gottesstaat errichten und vernichtet, missachtet, missbraucht all diejenigen, die anders sind.
Ich finde das ein ganz schwieriges Thema. Ich kann mich ja nicht selbst dazu zwingen, die Menschen sympathisch zu finden, die den Demagogen auf den Leim gehen. Kann ich wenigstens mit ihnen reden? Vielleicht wäre es schon mal ein Schritt ihnen zuzuhören.
Systemisch gesehen gehören sie dazu, müssen beachtet, wahrgenommen werden.
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Luisa Francia hat in ihrem Horoskop für 2017 eine Beschreibung des Skorpions geliefert, die mir sehr gut gefällt. Als doppelte Skorpionin fühle ich mich ganz und gar gesehen: http://www.salamandra.de/mondocane/template.php?nummer=31
Ich glaube übrigens nicht an astrologische Vorhersagen.

Donnerstag, 1. Dezember 2016

Nachruf

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Beim Kaffeetrinken mit den Geflüchteten in Selent erzählte einer meiner Mit-Sprachpaten von der schlechten Presse, die Fidel Castro seit seinem Tod in den Medien bekommen habe. Wenn er die TAZ nicht schon lange gekündigt hätte, wäre jetzt der richtige Moment gewesen.
Ich möchte mal einen positiven Nachruf machen (schönes Wort übrigens: man ruft einem Verstorbenen etwas nach, hinterher):

Daß nicht alle Kubaner mit dem Sturz der Batista-Diktatur durch eine Guerilla-Armee einverstanden waren, versteht sich. Die Privilegierten suchten nach Möglichkeiten, in die USA zu entkommen und von dort aus gegen die sozialistische Regierung unter Fidel Castro, die direkt vor der Haustür der Nordamerikaner ihre eigene Staatsform durchzog, anzuarbeiten.
Kubas Energieversorgung brach mit dem Auseinanderfallen der Sowjetunion komplett zusammen: kein Erdöl mehr. Und die Kubaner sind nicht in die Knie gegangen, sondern haben eine Lösung gefunden: Biolandbau, Subsistenzwirtschaft. Nicht aus Überzeugung, sondern aus Notwendigkeit. Das könnte uns Europäern auch passieren. Wer sagt denn, daß der Kapitalismus ein sich selbst erhaltendes Wirtschaftssystem ist?
In Kuba gibt es nach allem, was mir Menschen erzählt haben, die dort waren, keinen Hunger. Die Großstadt Havanna versorgt sich zu 70 - 80% selbst. Das kann keine deutsche Stadt. Wenn ich z. B. Linsen oder Bohnen aus deutscher Produktion kaufen will, muss ich lange suchen. Die meisten Hülsenfrüchte kommen aus China, auch Bio-Hülsenfrüchte.
Daß es heutzutage viele junge Kubaner gibt, die sich Jeans und Smartphones wünschen - traurig, aber so ist es: die neoliberalen Trancetechniken wirken global.
Fidel Castro hat sich dem US-Diktat widersetzt; er hat also auf jeden Fall etwas richtig gemacht.

Meine persönliche Politisierung fand übrigens durch die Geschehnisse von 1968 (Tod von Benno Ohnesorg, die Schüsse auf Rudi Dutschke, die hetzerische Springerpresse)) und einen Bericht im Spiegel über den Tod von Che Guevara im bolivianischen Dschungel statt.
Im Nachhinein finde ich es nicht richtig, die revolutionäre Strategie, die in Kuba funktioniert hat, in eine anderes Land zu bringen. Und ebenso glaube ich nicht mehr an die Sinnhaftigkeit von gewalttätigen Umwälzungen. Aber damals eröffneten mir diese mutigen Männer und Frauen (ja, letztere haben damals auch an vorderster Front gekämpft, z. B. Celia Sánchez, die heute noch in Kuba sehr verehrt wird) einen neuen Horizont. Eine Zeitlang träumte ich ernsthaft daran, Berufsrevolutionärin zu werden und mich an der Waffe ausbilden zu lassen (wie gut, daß dieser Traum nicht in Erfüllung gegangen ist!!!). Freiheit war mein Lebensthema (und ist es sicher immer noch auf irgendeine Weise), sowohl meine persönliche als auch die aller Menschen.
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