Sonntag, 21. Februar 2010

Noch ein Umzug

Winter-2009-2010-058
Ein paar Tage in Münster, um meinen Eltern bei Umzugsvorbereitungen zu helfen. Sie haben ihr Haus verkauft und beziehen eine kleinere Wohnung, die ihren Bedürfnissen als alte Menschen eher entgegenkommt. Ich finde es gut, daß sie in ihrem Stadtteil und damit in ihrem gewohnten Umfeld bleiben.
Mein Bruder war mit seiner Frau aus Schwaben angereist. Die beiden dübelten in der neuen Wohnung an, was an die Wände mußte, während ich Kisten im Akkord packte.
Meine Eltern wanderten durch das Haus, in dem sie fast vierzig Jahre ihres Lebens verbracht haben. Ich weiß, daß ihnen der Abschied schwer fällt.
Freitagmittag waren wir bei W. und H., einem befreundeten Ehepaar, zum Essen eingeladen. Sie sind sehr herzliche aufgeschlossene Menschen, deren Gegenwart ich immer angenehm finde. Ich ertappte mich dabei, daß ich Paare sehr genau beobachte: wie leben sie zusammen? Wie gehen sie miteinander um? Wie ist die Arbeitsteilung?
Es gibt ja offensichtlich Paare, die es lange und gut miteinander aushalten, wenn auch nicht so häufig. Ich würde gern wissen, wie sie es schaffen, ihre Verbindung lebendig zu halten. Alle Paare, die zufrieden wirken, sind aktiv, haben etwas Gemeinsames (und damit meine ich nicht gemeinsame Kinder, auch nicht gemeinsames Vor-der-Glotze-Abhängen) und existieren gleichzeitig als Individuen mit persönlichen Interessen.
Ich gebe zu, daß ich mich nach einem Menschen sehne, mit dem ich gemeinsam alt werden kann.

Ich verbrachte die letzte Nacht in diesem Haus und brachte gestern mit meinem Sohn ein paar Möbel, die ich von meinen Eltern geerbt habe, nach Lammershagen. Mein Vater hat sie gebaut, sie sind funktionell und schön, und ich freue mich über sie.
Ansonsten ist es seltsam: angesichts des Alters und der zunehmenden Hilfsbedürftigkeit meiner Eltern fühle ich mich richtig erwachsen. Und ich bin froh, sie unterstützen zu können.

Während ich durch Münster fuhr, entdeckte ich an den Getreidesilos am Hafen das überdimensionale Bild eines Stieres, der mich sehr an die Höhlenmalereien von Lascaux erinnerte. Es wirkte magisch: der gehörnte Stier in dieser Industrielandschaft. Später erfuhr ich von Katharinas Freund Martin, das es das Werk des Münsteraner Künstlers Pellegrino Ritter ist.
Wissen eigentlich noch Leute, daß Kühe Hörner tragen würden, wenn sie nicht serienmäßig auf qualvolle Weise enthornt werden. Übrigens auch die meisten Bioland-Kühe. Nur Demeter-Kühe dürfen ihre Hörner noch tragen. Seit ich das weiß, heißt es für mich, nur noch Milchprodukte von horntragenden Kühen zu kaufen.

Dienstag, 16. Februar 2010

Frühlingsahnung

Winter-2009-2010-053
Sonnenuntergänge wie dieser sind einer der Gründe, warum ich aufs Land gezogen bin. Und natürlich die zunehmende Mondsichel heute abend auf dem Rückweg von Selent durch Schneewehen und Stille. Der große Bär, der im Lateinischen ganz richtig "Ursa" = Bärin heißt, war auch am klaren Himmel und korespondiert mit der Bärin, die mich seit Utes Seminar begleitet. Früher war der Bär, besonders die Bärin, die im Winter ihre Kinder bekommt, auf der ganzen Nordhalbkugel ein heiliges Tier. Heute werden Bären, wenn sie es wagen, sich unseren Breiten zu nähern wie der arme Bruno vor einigen Jahren, zu Problembären ernannt und erschossen.
Heute morgen auf der Heimfahrt nach meinem Nachtdienst, kam ich an einer Unfallstelle vorbei. Etliche Autos waren betroffen und standen in der Morgendämmerung vor und hinter einer auf dem Asphalt liegenden Damhirschkuh. Mit dem Bild des toten Tieres fuhr ich nach Hause, es hängt mir nach, es bedrückt mich, es macht mir Gefühle, die ich nicht beschreiben kann. Ich kann und will mich nicht damit abfinden, daß unsere menschliche Lebensweise sich so oft als mörderisch für andere Wesen erweist. Aber auch ich fahre immer noch Auto, jetzt wieder mehr als in den zwei Jahren in der Stadt, weil ich nur so zur Arbeit komme.
Ich übe mich darin, wie wir es bei Ute gemacht haben, dem Schmerz einen immer weiteren Raum in mir zu geben, ohne ihn an etwas festzumachen.
Als ich mittags aufstand, strahlte die Sonne vom blauen Himmel und die Meisen trällerten schon frühlingsmäßig.

Freitag, 12. Februar 2010

Wieder zu Hause

Winter-2009-2010-052
Seit Sonntag bin ich wieder zu Hause. Im Allgäu lag mehr Schnee als hier, aber dort kommen sie besser damit klar, und es gibt nicht solche Schneewehen wie hier. Als ich heute zum Komposthaufen ging, versank ich bis zu den Oberschenkeln im Schnee, den der Wind zu bizarren Gebilden hochgetürmt hat. Und es bläst und bläst. Es lohnt sich gar nicht, den Eingang freizuschaufeln, denn nach einer Stunde sieht er wieder so aus, als hätte ich nichts getan. Auch die Müllabfuhr hat vor sechs Wochen das letzte Mal die Tonnen geleert.
Mit Ute haben wir kräftige energetische Felder aufgebaut, mit Lauten und Bewegung. Wie das geht, kann und will ich hier nicht beschreiben. Aber es rührt etwas auf, wirbelt alte Strukturen durcheinander. Jetzt bin ich wieder in meinem Alltag, mache was zu tun ist und schaue dabei zu, wie sich alles in Ruhe setzt. Wieder bin ich mit Wesenheiten jenseits des menschlichen Feldes in Berührung gekommen, wieder mal fand ich bestätigt, daß wir Menschen nicht das Maß aller Dinge, nicht der Mittelpunkt des Universums und schon gar nicht die Krone der Schöpfung sind.
Übrigens haben wir im Allgäu auch ganz irdisch und genußvoll gelebt: die Köchin Gabriele Maier hat uns mit unglaublich gutem vegetarischen Essen versorgt, wir haben die hauseigene Sauna genutzt und uns dann nackt im Schnee vergnügt, es gab gute und lustige Gespräche und tiefe Kontakte.
Auf dem Hin- und Rückweg habe ich bei Mara und Tana Zwischenstation gemacht, die mich auch in ihrem Auto mitgenommen haben. Danke, ihr beiden lieben Frauen, für eure Gastfreundschaft und für das Teilen von Gedanken!

Donnerstag, 28. Januar 2010

Lichtmess

Winter-2009-2010-0411
Am letzten Sonntag feierten wir Lichtmess: erst im klirrendkalten Wald, vom halben Mond beschienen, dann mit Essen und Trinken in meiner warmen Küche. Je länger ich die Jahreskreisfeste feiere, desto deutlicher empfinde ich die unterschiedlichen Zeitqualitäten. Es geht ja nicht nur um die Jahreszeit, sondern auch um Stimmungen, Energien, eigentlich nur erlebbare, nicht beschreibbare Strömungen, die in der Luft liegen. Lichtmess hat seit 2007 eine ganz besondere Bedeutung für mich bekommen: damals hat Ute Schiran in Charlottenberg uns Alma mater-Frauen mit den vier Winden experimentieren lassen. Ich wählte Louhi, die Nordwindin und Vogelfrau, die einige vielleicht aus der finnischen Kalevala kennen. Ich kannte sie nicht, fühlte mich nur zu ihr hingezogen und erfuhr im Nachhinein, daß sie die große Zerreißerin ist. Ja, und es sieht so aus, als hätte sie dann im gleichen Jahr meine Ehe zerrissen und damit für eine längst überfällige Klarheit gesorgt. Die Klarheit, daß dieser schwere Schritt unausweichlich geworden war. Das hat mich auch mal wieder darin bestätigt, daß eine nicht unverbindlich mit den unsichtbaren Energien spielen kann. Was gerufen wird, kommt und manchmal auf unberechenbare Weise.
Aber Lichtmess hat auch diese närrischen Elemente, die wir heute noch in den Karnevalsbräuchen in katholischen Gegenden wiederfinden. Leider kann ich kein Weiberfastnacht mehr feiern, seit ich im protestanischen Norden wohne.
Morgen fahre ich ins Allgäu, um mal wieder von Ute Schiran lernen. Und die liebe Astrid und all die anderen interessanten Frauen wieder zu sehen.

Samstag, 23. Januar 2010

Licht

Winter-2009-2010-042
An die LeserInnen meines Blog: ich freue mich über eure Kommentare. Bitte nehmt mir nicht übel, wenn ich nicht auf jeden eingehe. Manche können ja auch für sich stehen bleiben.

Wir haben einen bitterkalten Winter, aber das Licht nimmt spürbar wieder zu. Heute kam sogar mal wieder die Sonne leicht verschleiert zum Vorschein. Im Wald fand ich einen Bach, der im Lauf der Zeit eine tiefe Schlucht in die Erde gegraben hat. Er war bis auf einige wenige Stellen zugefroren, aber hier und da konnte ich das eifrige Murmeln des Wassers hören. Im Wald gab es nur Wildspuren und meine eigenen.
Ein Trupp Singschwäne erhob sich mit trompetenden Lauten von einem Feld, als ich in die Nähe kam. Ich höre und sehe sie jeden Tag in großer Zahl, wenn sie über mein Haus fliegen.
Zunehmender Mond im Wassermann unter Uranias Einfluss - Lichtmess-Zeit. Mal sehen, welcher Impuls aus dem Unstrukturierten der Winterzeit aufsteigen möchte.

Nachdem ich den 2. Band "Als alle Menschen Schwestern waren" von Irene Fleiss gelesen habe, weiß ich einiges mehr über menschliche Gesellschaftsformen. Gemeinsam scheint allen zu sein, daß sie ursprünglich matriarchal waren. Weil das Wort Matriarchat meisten falsch übersetzt wird mit "Frauenherrschaft" hier noch mal die korrekte Übersetzung: Matri arché = am Anfang die Mütter.
Matriarchale Gesellschaften waren/sind Gesellschaften ohne Herrschaft, ohne Staat, ohne Krieg.
Ansonsten unterscheiden sich die Lebensformen dieser Gesellschaften enorm: da gibt es verschiedene Eheformen, am häufigsten "serielle Monogamie", meist als Besuchsehe praktiziert, seltener leben Frau und Mann zusammen. Es gibt Gesellschaften mit deutlicher Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau, in anderen jagen und sammeln beide gemeinsam, in wieder anderen kümmern sich die Männer um die kleinen Kinder, in vielen Gesellschaften sind Männer von den Frauen wirtschaftlich abhängig, einige haben völlig getrennte Bereiche und sehen sich nur gelegentlich. Mit anderen Worten: es gibt so viele Varianten wie es Volksgruppen gibt.
Daraus ergibt sich für mich, daß es keine richtige oder falsche Form von Zusammenleben gibt, solange sie frei von Herrschaft ist und - ganz wichtig - nachhaltig handelt. Indigene Völker nennen das "sieben Generationen voraus denken".
Das ist ja heutzutage nicht üblich: will doch unsere Regierung alle AKWs am Netz lassen. Da kann ich nur sagen: Die haben den Urknall nicht gehört!
Aber natürlich haben wir es wie immer auch in der Hand: selber Schuld, wer jetzt immer noch von den großen Energiekonzernen seinen Strom bezieht. Und komm mir jetzt keiner mit dem Argument, die Ökostromanbieter wären so teuer: ich zahle das Gleiche wie bei meinem alten Anbieter, und der Abzocker EON, der nach meinem Umzug kurzfristig mein Stromlieferant war, weil ich nicht aufgepasst hatte, hat mir sogar das Doppelte als Monatspauschale abgeknöpft. Sie mussten mir allerdings auch ziemlich viel zurückzahlen.
Winter-2009-2010-038

Montag, 11. Januar 2010

Jäger und Jägerinnen

Winter-2009-2010-007
Hier stürmt es schon den dritten Tag in Folge. Heute machte ich mich mal wieder auf den Weg zum Einkaufen ins Nachbardorf. Da, wo der Weg nur von Feldern begrenzt ist, mußte ich mich durch abenteuerliche Schneewehen hindurcharbeiten. Schneeschuhe wären nicht schlecht gewesen, und leider hatte ich auch nicht an meine Kamera gedacht. Auf dem Rückweg waren meine eigenen Spuren schon wieder zugeweht.
Die gestrige Autofahrt nach Kiel zu Dorothee war nicht so lustig: der Sturm blies so sehr, daß ich zeitweise nur auf Verdacht fuhr. Immer da, wo die Bauern die Knicks, das sind die in Holstein traditionellen Wallhecken, entfernt haben, um Riesenfelder für ihre monströs großen Landmaschinen zu schaffen, kommt es zu meterhohen Schneeverwehungen auf den Straßen. Ich war gestern wirklich dankbar für die vielen Menschen, die 24 Stunden am Tag mit ihren Räumfahrzeugen unterwegs sind.

Mir ist noch mal das Thema "Männer sind Jäger" durch den Kopf gegangen. Da kann eine mal sehen, wie gehirngewaschen wir sind: wir gehen ja ganz selbstverständlich von der Richtigkeit dieser Behauptung aus. Aber es ist bekannt, wird halt nur nicht so an die große Glocke gehängt, daß auch Frauen Jägerinnen waren und noch sind, z.B. bei den Inuit und Aboriginals, und allein oder mit den Männern zusammen gejagt haben. Ich glaube, dieser viel zitierte Jägermythos rührt von dem verständlichen Wunsch her, einen sinnvollen eigenen Beitrag für das Wohl der Sippe/Familie zu bringen und darauf stolz sein zu können.
Was ist vom Männer-sind-Jäger-Mythos geblieben? Heute wird aus "sportlichen" Gründen gejagt (die Briten nennen die Treibjagd bezeichnenderweise "bloodsports"), manche Jäger beschwören auch ihre Funktion als Regulierer. Es sind aber oft dieselben, die sich einer Wiederansiedlung der Wölfe und Bären, die ja die ursprünglichen Regulierer waren, widersetzen.
Dann fallen mir noch Männer in Kampfanzügen auf Kreta ein, die uns auf einer unserer Wanderungen ganz stolz winzige, erschossene Vögel entgegen hielten. Oder die Männer auf Gozo, die an den Wochenenden alles aus der Luft schossen, was keine Bogen um das maltesische Archipel machte. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen, wie ein getroffener Bussard abstürzte. Auf Malta und Gozo überleben nur Vögel, die in winzigen Käfigen vor sich hin vegetieren.
Das Bedürfnis, einen Beitrag für das Große Ganze zu leisten, scheint universell zu sein. Um die Jagd kann es sich da in meinen Augen heute jedoch nicht mehr handeln. Ich kann mir da noch einiges mehr vorstellen, z.B. nachhaltig denken und handeln, oder wie indigene Völker sagen: sieben Generationen im Voraus denken.

Samstag, 9. Januar 2010

Sturm

Winter-2009-2010-017
Winter-2009-2010-020
Die Raunächte sind vorbei. Am 6. Januar, dem Tag der Percht oder Holle (daraus wurde später der Dreikönigstag), habe ich meine Wohnung mit Salbei ausgeräuchert und mit Kreide die Initialen der drei Helferinnen Catharina, Margarete und Barbara als Schutzzeichen neben die Haustür geschrieben. Die Idee habe ich von Ute Schiran, die sich vor Jahren überlegt hatte, wie sie das in katholischen Gegenden übliche Kreidezeichen heidnisch ummünzen könnte.
Diese drei Frauen repräsentieren die dreifaltige Göttin und wurden in Süddeutschland zu Heiligen gemacht wie alle vorchristlichen Gestalten, von denen das Volk nicht lassen wollte.

Den ganzen Tag stürmt es hier schon, als wäre die Percht noch mit ihrer wilden Jagd unterwegs. Ich sah fasziniert zu, wie der Schnee waagerecht durch die Luft geblasen und zu hohen Wehen aufgetürmt wurde. Weil ich Sturm so sehr liebe, mußte ich natürlich raus, gut eingemummelt in Wolltuch und Fellhandschuhe, und ging unbekannte Wege am Gut entlang durch den Wald. Auf dem Rückweg beobachtete mich ein Rudel Damhirsche mit schwarzem Winterfell - und ich sie. Als ich meinen Fotoapparat zückte, ergriffen sie die Flucht.
Eine Frau grüßte mich freundlich. Immer wieder fällt mir diese Freundlichkeit hier auf.
Es scheint an diesem Ort zu liegen, der eine so friedliche und schöne Ausstrahlung hat. Wieder war ich ganz dankbar, daß das Leben mich hierher gebracht hat.

In Avestas lesenswerter Broschüre "Alteuropäische Todesgöttinnen" (erhältlich über www.arkuna.de) las ich Ausschnitte aus einem Gedicht des walisischen Barden Taliesin aus dem 6. Jahrhundert, das den Wiedergeburtsglauben unserer Ahnen beschreibt. Ich zitiere es aus Robert Ranke-Graves "Weißer Göttin":

Ich war in vielen Gestalten,
bevor ich die passende Form fand.
Ich war die schmale Klinge des Schwertes.
...
Ich war ein Tropfen in der Luft.
Ich war ein leuchtender Stern.
Ich war ein Wort in einem Buch.
...
Ich war ein Licht in einer Lampe.
Ein und einhalb Jahr.
Ich war eine Brücke zum Überschreiten
von dreimal zwanzig Flüssen.
Ich bin gereist als Adler.
Ich war ein Schiff auf dem Meer.
Ich war ein Führer in der Schlacht.
Ich war das Band an eines Kindes Wickeltuch.
Ich war das Schwert in der Hand.
Ich war ein Schild im Kampf.
Ich war die Saite einer Harfe
...

Diese Zeilen berühren mich sehr. Ja, auch ich bin davon überzeugt, daß wir alles sind, immer wieder die Gestalt wechseln und deshalb auch fähig sind, uns in alle Wesen einzufühlen, weil sie uns nicht wirklich fremd sein können.

Sonntag, 3. Januar 2010

Frost

Herbst-2009-065
Als ich heute abend nach der Arbeit auf das Thermometer am Küchenfenster sah, dachte ich erst an eine optische Täuschung. Aber nein, es sind tatsächlich mittlerweile -13°C. Ich habe es gar nicht als so kalt empfunden, als ich aus der Klinik zu meinem Auto gegangen bin.
Hier ist der Winter voll eingezogen. Heute morgen vor dem Dienst habe ich eine halbe Stunde Schnee geschippt und mein Auto abgefegt. Diese Arbeit machte meinen Kopf klar und frei.
Seit gestern habe ich eine Erkältung. Sie kam plötzlich, fast ohne Vorwarnung, außer daß ich schon seit Tagen kalte Füße hatte. Nun gut, ich bin so selten krank, mein Immunsystem braucht offensichtlich mal wieder ein bißchen Übung. Ich trank Ingwerwasser und machte vor dem Zubettgehen ein Kamillendampfbad, schlief unter zwei Decken und träumte von Nina Hagen.
Heute Nachmittag gab es auf der Station so viel zu tun, daß ich gar nicht dazu kam, mich krank zu fühlen: stockbesoffene, völlig fertige Menschen kamen zur Aufnahme und gingen nach wenigen Stunden wieder, wenn der Entzug einsetzte.
Mittags nach der Übergabe gab es ein Gespräch über das Thema Sucht: ist es eine Krankheit? Jedenfalls ist es etwas ganz Seltsames: eine Substanz tut einem scheinbar gut, erfüllt ein Bedürfnis, lindert einen Schmerz und dann - peu à peu wird eineR Sklave dieser Substanz. Es gibt keine freie Entscheidung mehr. Der persönliche Kern eines Menschen wird immer flacher, immer reduzierter, es gibt keine Weiterentwicklung mehr, und die einzige Beziehung, die noch bleibt, ist die zu der unfrei machenden Substanz.
Ich den Mechanismus von Sucht sehr gut: keine Macht der Welt hätte mich als jahrelange exzessive Raucherin umstimmen können. Wenn einer meiner Liebhaber mich vor die Alternative gestellt hätte, weiterzurauchen oder verlassen zu werden, hätte ich weitergeraucht, zur Not heimlich. Es war letztendlich etwas in mir, eine innere Führung, die mir dazu verholfen hat, daß ich meine Freiheit wieder gewann.
So ähnlich war es auch vor fast dreißig Jahren, als ich eine sehr quälende Eßstörung überwand. Der erste Schritt war die Entscheidung: das will ich nicht mehr! Der zweite das Eingeständnis: ich schaffe es nicht allein, wo finde ich Hilfe?
Die Hilfe kam damals in Form der Idee, eine Selbsthilfegruppe zu gründen und der Entschiedenheit, mich darauf einzulassen. Ich habe seitdem nie wieder Probleme mit dem Essen gehabt.

Ich will das nicht mehr! Ich schaffe es nicht allein. Wo finde ich die mir gemäße Hilfe? Das sagte ich mir auch 1986, im Jahr des GAUs von Tschernobyl, als ich mal wieder in eines meiner tiefschwarzen depressiven Löcher fiel. Zwei Wochen später hatte ich einen Therapeuten, mit dessen Hilfe sich innerhalb von zwei Jahren mein ganzes Leben auf eine unvorstellbare Weise änderte: ich dachte anders und begann Lust am Leben und an mir selbst zu finden. Im Nachhinein kann ich sagen, daß Depression sich wohl aus "falschem" Denken entwickelt.
Daß ich diesen Satz fand, der die Veränderung einleitete, war vielleicht ein Geschenk der Geister, jedenfalls nicht mein Verdienst. Daß die Therapie mir half, lebendig, lustvoll und frei zu werden, das verdanke ich sowohl meinem Therapeuten als auch meiner Bereitschaft, mich voll einzulassen.

zurück

Aktuelle Beiträge

Ich ziehe um
https://hollesgarten.wordp ress.com/
Marie-Luise - 10. Mär, 12:06
Immer die gleiche Geschichte
Vorletztes Wochenende war ich mit I. in Flensburg....
Marie-Luise - 9. Mär, 23:24
Kummer
Meine liebe kleine Skadi ist tot. Sie ist nur drei...
Marie-Luise - 20. Feb, 21:12
Fluss
Ich hatte mir den Sonntag frei getauscht, um zum De...
Marie-Luise - 6. Feb, 17:01
Marienkirche
Am Sonntag besuchte mich M. und ich zeigte ihr unseren...
Marie-Luise - 31. Jan, 01:35

Suche

 


Profil
Abmelden
Weblog abonnieren