Spiegel

Ich wurde Zeugin eines Telefonats, das meine Tochter mit ihrem Freund führte. Sie hatte sich über ihn geärgert, und ihr Ton war laut und scharf. Wie eine Peitsche, dachte ich, unangenehm schon für mich und wie unangenehm erst für ihn am anderen Ende der Leitung.
Mein erster Impuls war, zu ihr zu gehen und ihr deutlich zu machen, daß sie so nicht mit anderen Menschen reden sollte, egal was sie getan hätten. Und überhaupt, schon gar nicht in meinem Haus! Diesem Impuls gab ich, Göttin sei Dank, nicht nach.
Dann wurde mir messerscharf klar, daß sie mir ein Verhalten spiegelte, mit dem sie groß geworden ist: wie oft habe ich Liebhaber, Ehemänner und auch sie in diesem Ton angefahren. Jetzt, wo ich es aus ihrem Mund höre, durchfährt es mich wie ein Schock: wie beschissen fühlt sich das für den Anderen an.
Worum ging es eigentlich? Meine Wutausbrüche hatten wohl meistens den Hintergrund, daß ich den Anderen anders haben wollte als er war. Und natürlich fühlte ich mich in den Situationen auch immer voll und ganz im Recht.
Nun leben wir ja in einer Kultur, in der Menschen grundsätzlich anders sein sollen, als sie sind. Das fängt in der Kindheit schon an und wird von Generation zu Generation unhinterfragt weitergegeben.
Also scheint es auch normal zu sein, daß eineR ihren Mann oder seine Frau mehr oder weniger erzieht. Und das ist dann auch der Anfang vom Ende einer Beziehung.
Ich möchte nicht falsch verstanden werden: ich finde es wichtig zu sagen, wenn mich etwas stört. Und welche wüsste besser als ich, daß es gute Gründe gibt, Beziehungen zu beenden, weil die Lebensentscheidung des Anderen nicht (mehr) kompatibel mit meiner eigenen ist. Selbstverständlich gibt es auch Grenzüberschreitungen, die ich nicht hinnehmen kann und will - das ist eine Frage der Selbstachtung.
Aber den Anderen zu einem anderen Menschen machen zu wollen, der gesünder lebt, weniger trinkt, raucht, isst, sich mehr mitteilt, mehr Lust auf Sex hat, nicht so oft Sex will usw. führt nach meiner Erfahrung in eine Sackgasse.
Kann ich wissen, welcher Weg für den Anderen der Richtige ist? Nein, ich kann es nie und nimmer! Wenn ich das zu wissen glaube, führt es zu Bevormundung, was ich als eine Form von Gewalt ansehe.
Ja, ich habe leicht reden. Ich bin für mich, fern von allen Beziehungsstreitigkeiten. Sollte ich jemals wieder in dieser Situation sein, daß mir die Galle wegen des Verhaltens anderer Menschen hoch kocht, möchte ich mich daran erinnern, nach draußen zu gehen und meine heftigen Emotionen der Erde zu übergeben.

Marie-Luise - 21. Jan, 20:22
SirToby (Gast) - 21. Jan, 21:13
Interessante Beiträge, insbesondere im Hinblick auf das ewige und unsägliche Thema Beziehungen, denen ich mich auch seit geraumer Zeit entzogen habe. Tochter-Mutter, auch das ein Großes Thema. Auf Oya wurde ich nun aufmerksam, ein aufmunterndes Blatt.
antworten
SirToby (Gast) - 21. Jan, 23:46
Nachtrag
Ich habe mich in deinem blog verloren, bis ins Jahr 10 zurück. Wunderbare Erkenntnisse und Gedanken zu einer Vielzahl von Themen. Ein Zeitungsartikel, kurz vor dem Anzünden für den Ofen, gelesen... Viele Dinge, die auch ich so sehe. Zum Beispiel keinen Fernseher, die Spinnen im Raum sein lassen, die Einstellung zu Krankheiten (die übrigens ähnlich von Hans Castorp, der Protagonist im "Zauberberg" von Thomas Mann, so gesehen wird), die politischen Überlegungen, die umweltlichen, die Fragen zu Feminismus und dergleichen. Tja, selten sowas.
Sabine (Gast) - 22. Jan, 23:20
Ui, wenn es denn gerade um Bewertungen geht, ich mag Deinen Blog, ich finde ihn ehrlich und inspirierend, auch wenn ich nicht zu allem Zugang finde oder eine Meinung teile.
Zu den "überschießenden Gefühlen" frag ich mich immer, wie reagiere ich angemessen. Vorallem wie schaffe ich das. Was bringt eine/einen so aus dem Gleichgewicht? Oder darf das auch mal sein, das man zumutend ist für den anderen?
Zu den "überschießenden Gefühlen" frag ich mich immer, wie reagiere ich angemessen. Vorallem wie schaffe ich das. Was bringt eine/einen so aus dem Gleichgewicht? Oder darf das auch mal sein, das man zumutend ist für den anderen?
SirToby (Gast) - 23. Jan, 09:46
@Sabine
Bei den tausenderlei Befindlichkeiten mit denen die Menschen von heute ausgestattet sind, sind "Zumutungen" insoweit stets eine grenzgängerische Art des Umgangs mit anderen. Insoweit bin jedenfalls ich persönlich, oft nicht in der Lage "angemessen" zu reagieren. Jedes Wort kann falsch sein... so reagiere ich trotzdem und trete mithin munter von Fettnäpchen zu Fettnäpchen. Eine diesbezügliche "Angemessenheit" finde ich oft nicht, Situationsbedingt. Ist mir auch zu anstrengend. Naja, "Gleichgewicht", davon kann man wohl eher nicht reden, denn wäre man in demselben, könnte man mit sowas nicht rausgebracht werden...
Astrid Wehmeyer (Gast) - 23. Jan, 13:53
Wahrnehmen
Schon interessant, das dein letzter Blogeintrag soviele Reaktionen - und jetzt ja auch meine - auslöst. Das Thema der "Emotionen", ihrer Wirkungen auf uns selbst und andere, ihrer Kontrolle etc. ist ja auch ein menschheitsbewegendes ...
Im Rahmen meiner eigenen Forschungsreise - von der "jähzornigen" Mutter und meinen "Todstellreflexen" über eigene "Tobsuchtsanfälle", die sich jetzt in den Wechseljahren zu wahren Drachenorgien steigern können - habe ich immer wieder gespürt, dass ich diese aufwallenden, alles überschwemmenden Energien nicht wirklich "kontrollieren" kann. Was sollte das auch sein, so etwas ähnliches wie ein "kontrollierter" Reaktorstörfall? Energie ist da, und sie will ihren Raum. Und was ich heute weiß, ist auch: In Frauen wütet sie so heftig, weil sie seit jahrhunderten in den Untergrund getrieben ist.
Was sicherlich nicht bedeutet: Jetzt mal die Sau rauslassen!
Ich entdecke gerade Pema Chödron in diesem Zusammenhang: "Gehe an die Orte, die du fürchtest." Zum ersten mal begegnet mir eine Buddhistin, die sagt: Es geht nicht um Kontrolle, es geht um Gewahrwerden. Mit anderen Worten: Beobachten, was eigentlich geschieht. Und die Energie von der persönlichen Geschichte lösen. Es ist nicht der Freund/die Freudin, die Nachbarn, der Staat, mein Feind ... etc. - natürlich nicht. Es ist die Energie, die durch mich durchfährt wie ein Wind, und um sie zu verstehen, binde ich sie an mich und meine nächsten. Schöne Energien an Freunde etc. unangenehme Energien an Feinde/die, die mir gerade eh auf den Kecks gehen.
Dieses Lassen führt bei mir dazu, dass der Ausdruck der Energie immer mehr schon im Entstehen an Schub einbüsst. Plötzlich werde ich gewahr: da ist sie ja schon wieder. Weil ich die Körpersymptome kennengelernt habe: Enge in der Brust, Druck in Hals und Kopf, Verspannung im Becken. Und dann rutscht manchmal noch ein Wort heraus, aber es sumpft dann richtig ab ... interessantes Erlebnis.
Nicht, das mir das schon immer gelange, aber dadurch, dass ich es nicht mehr zu vermeiden suche, sondern jede Berührung als Angebot zu mehr Wachheit annehmen kann, verändert es sich.
Soviel kann ich bis heute beisteuern zu diesem Thema. Und wunderbar, dass uns unsere Töchter so 1zu1 spiegeln ...:-)))
Im Rahmen meiner eigenen Forschungsreise - von der "jähzornigen" Mutter und meinen "Todstellreflexen" über eigene "Tobsuchtsanfälle", die sich jetzt in den Wechseljahren zu wahren Drachenorgien steigern können - habe ich immer wieder gespürt, dass ich diese aufwallenden, alles überschwemmenden Energien nicht wirklich "kontrollieren" kann. Was sollte das auch sein, so etwas ähnliches wie ein "kontrollierter" Reaktorstörfall? Energie ist da, und sie will ihren Raum. Und was ich heute weiß, ist auch: In Frauen wütet sie so heftig, weil sie seit jahrhunderten in den Untergrund getrieben ist.
Was sicherlich nicht bedeutet: Jetzt mal die Sau rauslassen!
Ich entdecke gerade Pema Chödron in diesem Zusammenhang: "Gehe an die Orte, die du fürchtest." Zum ersten mal begegnet mir eine Buddhistin, die sagt: Es geht nicht um Kontrolle, es geht um Gewahrwerden. Mit anderen Worten: Beobachten, was eigentlich geschieht. Und die Energie von der persönlichen Geschichte lösen. Es ist nicht der Freund/die Freudin, die Nachbarn, der Staat, mein Feind ... etc. - natürlich nicht. Es ist die Energie, die durch mich durchfährt wie ein Wind, und um sie zu verstehen, binde ich sie an mich und meine nächsten. Schöne Energien an Freunde etc. unangenehme Energien an Feinde/die, die mir gerade eh auf den Kecks gehen.
Dieses Lassen führt bei mir dazu, dass der Ausdruck der Energie immer mehr schon im Entstehen an Schub einbüsst. Plötzlich werde ich gewahr: da ist sie ja schon wieder. Weil ich die Körpersymptome kennengelernt habe: Enge in der Brust, Druck in Hals und Kopf, Verspannung im Becken. Und dann rutscht manchmal noch ein Wort heraus, aber es sumpft dann richtig ab ... interessantes Erlebnis.
Nicht, das mir das schon immer gelange, aber dadurch, dass ich es nicht mehr zu vermeiden suche, sondern jede Berührung als Angebot zu mehr Wachheit annehmen kann, verändert es sich.
Soviel kann ich bis heute beisteuern zu diesem Thema. Und wunderbar, dass uns unsere Töchter so 1zu1 spiegeln ...:-)))
SirToby (Gast) - 23. Jan, 23:41
Wahrnemung
Ich möchte das mal so bezeichnen: Wahrnehmung führt zur Sicht auf die Realität.
Unser Handeln orientiert sich nicht daran, wie die Welt ist, sondern daran, wie wir sie wahrnehmen (selektive Wahrnehmung). Je präziser unsere Wahrnehmung entsteht, desto konkreter wird die Basis um erfolgreiches Handeln zu erzielen. Eine unvollständige, selektive oder verzerrte Wahrnehmung führt zwangsläufig zu ungeeignetem, nicht zielorientierten Handeln. Wahrnehmung ermöglicht sinnvolles Handeln und, bei höheren Lebewesen, den Aufbau von mentalen Modellen der Welt und dadurch antizipatorisches und planerisches Denken. Wahrnehmung ist eine Grundlage von Lernprozessen.
Unser Handeln orientiert sich nicht daran, wie die Welt ist, sondern daran, wie wir sie wahrnehmen (selektive Wahrnehmung). Je präziser unsere Wahrnehmung entsteht, desto konkreter wird die Basis um erfolgreiches Handeln zu erzielen. Eine unvollständige, selektive oder verzerrte Wahrnehmung führt zwangsläufig zu ungeeignetem, nicht zielorientierten Handeln. Wahrnehmung ermöglicht sinnvolles Handeln und, bei höheren Lebewesen, den Aufbau von mentalen Modellen der Welt und dadurch antizipatorisches und planerisches Denken. Wahrnehmung ist eine Grundlage von Lernprozessen.
Uschi (Gast) - 13. Feb, 14:44
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Ein wunderbarer Ansatz Astrid, deine Gedanken zu dem Thema gefallen mir gut und entsprechen auch meinen Theorien und Erfahrungen die ich damit machen konnte.
Meist reichen ein zwei Worte um Mitzuteilen was gerade nicht stimmig ist und alles andere kann man dann getrost bei dem anderen lassen, erleichtert das Leben und gibt Raum für sonniges :-)
Meist reichen ein zwei Worte um Mitzuteilen was gerade nicht stimmig ist und alles andere kann man dann getrost bei dem anderen lassen, erleichtert das Leben und gibt Raum für sonniges :-)