Traumzeit

Liebe Evelyn, ich kann mir denken, daß deine Assoziationen zu "wild" in Richtung zügellos, bewegt, vielleicht auch laut gehen. Daß eine still und wild sein kann, passt nicht so recht in unsere Vorstellungswelt.
Ich habe mal im etymologischen Wörterbuch nachgeschlagen: "wild" wird da in Verbindung gebracht mit "ungezähmt", und es wird vermutet, daß es mit "Wald" verwandt ist. Das macht für mich Sinn: das Wilde lebt im Wald, auf der anderen Seite ist das Zivilisierte, das Kultivierte, dem der Mensch seine eigene Ordnung übergestülpt hat.
Der Ausdruck "wilde Zeit" kam mir morgens beim Aufwachen. In diesem Moment wußte ich ganz klar, daß ich mir möglichst jeden Tag einen Zeitraum gönnen sollte, der völlig unverplant ist, eine Zeit des Nicht-Tuns, in der alles möglich ist. Da ich als sehr strukturierter und viel arbeitender Mensch dazu neige, meinen ganzen Tag mit Tätigkeiten zuzupflastern, ist das wirklich was Neues.
Einfach stillsitzen und gucken, was kommt. Kein Buch vor die Nase, kein Strickzeug in die Hände nehmen.
Bei vielen Tieren kann man dieses Verhalten beobachten, besonders schön bei Katzen.
Aber ich könnte diese Zeit auch "Traumzeit" nennen, in Anlehnung an die Traumzeit der australischen Aboriginals. Nach deren Weltbild wird alles ins Leben geträumt, was ist. Und alles, was lebt - Erde, Steine, Pflanzen, Tiere und Menschen träumen, was sich dann irgendwann materialisiert. Das Träumen erhält also das Leben. Wolf-Dieter Storl schreibt in seinem Buch "Das Herz", daß in unserer Zivilisation das Fernsehen der Ersatz für die Traumzeit ist. Ein schlüssiger Gedanke, finde ich.
In den Zeiten, in denen ich noch starke Raucherin war, bedeutete jede Zigarette eine Auszeit - Traumzeit - wilde Zeit in meinem mit vielen Verpflichtungen vollgepackten Alltag. Auch das Kiffen hatte für mich lange diese Funktion.
Interessant finde ich, daß in unserer Kultur, die Arbeit, Effektivität, Fleiss anbetet, ein Teil der Menschheit sich kaum oder gar keine Traumzeit gönnt, während ein anderer Teil den ganzen Tag als sogenannte Penner abhängt. Der Gesamtorganismus Gesellschaft holt sich seine Traumzeit, so wie der menschliche Organismus sich seinen Schlaf holt.
Für mich ist es jedenfalls eine Herausforderung, mir diese Traumzeit zu genehmigen und weil sie jenseits meiner gewohnten Zeitordnung und Konditionierung liegt, eine "wilde Zeit".
Auf dem Foto ist meine neue Feuerstelle zu sehen.
Marie-Luise - 25. Mai, 22:26

es ist interessant, wie tiefgreifend die Furcht vor dem "Wilden" eingegrabe in in unsere "Kultur" und von dort aus in unsere Herzen und Köpfe. Angefangen von der Furcht vor Uneffektivität ("Du verplemperst dein Leben!"), der Angst vor Sinnlosigkeit (siehe die vielen Menschen, die mit "Arbeits-"losigkeit nicht klar kommen, weil sie sich nicht mehr als vollwertige Mitglieder der Gemeinschaft fühlen) über die Konditionierung der Kinder ("Träum nicht rum!") bis hin zu den Märchen, Mhyten und Sagen, in denen das Wilde als Wolf, Hexe oder sonst eine Urkraft auftaucht, die Kinder frißt und das traute Heim zerstört.
In den alten Kulturen gab es die trennung zwischen Wild und .... (tja, was denn eigentlich?) gar nicht. Es gab nur das Leben und in ihm die verschiedenen Kräfte, die aber alle zum lebendigen Impuls dazu gehörten. Ob nun der Mädchen- und Mutteraspekt, das Unschuldige, Reine, und das Struktur-Gebende und Gestaltende - oder das Zerstörerische, das Chaotische, Ungeplante, Auflösende ... Ja, selbst diese Aspekte waren nicht nur Eins, auch sie hatten mehrere Seiten: Artemis, ein verkörperter Mädchenaspekt war lieblich UND wild im dem Sinne, das sie ihrem eigenen Gesetz folgte und auch schon mal zerstörte, was sich dem Leben und seiner austreibenden Kraft entgegen stellte.
Ich glaube, das wir heute diese Wunde "heilen" müssen, die das Entweder-Oder und die Furcht vor dem Oder in uns geschlagen haben. Es kann nur Struktur geben, wenn wir das Unstrukturierte (oder Wilde - in einem Aspekt) einladen, denn sonst wird die Struktur starr und tötet, womit ein anderer Aspekt des Wilden sich dann doch wieder Raum nimmt.
Ich glaube, dass das Ganze stark verbunden ist mit der Fähigkeit, sich dem Lebensfluss anzuvertrauen. Der ist dann mal ein gemächlich fließender Strom in einem starken Bett - oder ein schmales Flüsslein, gerade aus der Quelle entsprungen, das sich kurz darauf in einen wilden Bach verwandelt, über Stromschnellen hinweg und sich als Wasserfall in die Tiefe stürzend ...
Den Gedanken über die Traumzeit finde ich sehr inspirierend. Das Träumen, was hier gemeint ist, ist ja nicht dieses halb-bewußte vor-sich-hin-dümpeln im Phlegma, was wir meistens mit diesem Begriff verbinden. Und auch nicht die romantisch-verkitschte Tagträumerei (auch wenn gegen das Tag-Träumen beileibe nichts einzuwenden ist!). Es ist vielleicht das bewußte Wechseln in eine andere Ebene des Bewußtseins, in der die Kanäle geöffnet werden für all das, was rings um uns herum kommuniziert. Wenn wir so "träumen", weben wir den "Menschinnentraum", also unseren Beitrag, in das Traumgefüge des Universums. Und da hilft z. B. das Bilsenkraut, liebe Evelyn ...
Euch beiden eine gute Zeit, bis bald, Astrid