Das Wilde

Gern greife ich den Faden auf, den du zu mir herübergesponnen hast, liebste Astrid.
Ich glaube im Gegensatz zu dir nicht, daß das Wilde in uns verschwunden ist. Nichts verschwindet je, davon bin ich überzeugt, und der olle Einstein behauptete ja Ähnliches mit seinem Satz: Energie geht nicht verloren...
Alles ist weiterhin in unseren Zellen gespeichert. Das Bedürfnis nach dem Wilden zeigt sich mir zum Beispiel bei den Frauen, die zu meinen Kräuterkursen kommen: eine große Sehnsucht nach Einfachheit, nach Ursprünglichkeit, nach Wiederanbindung an das Wilde. Da gibt es eine Resonanz mit etwas lange Vergessenen, Schlafenden, meinetwegen auch Verdrängten.
Die Psychologen und Psychiater seit Freud haben zwar das sogenannte Unbewußte analysiert und katalogisiert und viele Bücher darüber geschrieben. Aber letztendlich - das weiß ich aus meiner Arbeit in der Psychiatrie - wissen sie nur ganz wenig über die inneren Triebkräfte der Menschen, die sie behandeln. Denn sie bewegen sich nach wie vor im grauen Feld der Theorie.
Ich sehe es so: das Wilde zeigt sich gelegentlich, wenn einer psychotisch wird oder plötzlich ausrastet. Das sind dann die verdrehten Ausdrucksweisen von Wildheit, die so lange unterm Deckel gehalten wurde.
Aber sie kann sich auch ganz sanft und subtil zeigen, fast unmerklich: wenn eineR anfängt, ihrer inneren Stimme zuzuhören und sie ernst zu nehmen. Und dann nach und nach immer mehr Vertrauen zur eigenen Wahrnehmung und ins Leben zu finden.
Heute in der Abenddämmerung machte ich einen Spaziergang zu meiner alten Lieblingsbuche. An ihren Stamm gelehnt, dem sanften Flüstern ihrer Blätter lauschend, meiner Wahrnehmung erlaubend, immer weiter zu werden, offen für Überraschungen, geschah ein starkes Empfinden von Über-Ein-Stimmung mit allem um mich herum. Ich kann das nicht näher beschreiben, es war eine außer- oder vorsprachliche Erfahrung. Das würde ich als Wildheit bezeichnen.
In allem, was du über Energiegewinnung schreibst, stimme ich dir zu. Ich hasse die Windkraftanlagen, die hier en masse herumstehen. Nicht nur, daß sie hässlich sind, sie schreddern leider auch Seeadler und andere große Vögel.
Nein, es ist wohl so, wie Vandana Shiva und Maria Mies es eindrucksvoll in ihren Büchern beschreiben: ein gutes Leben zu leben, ohne die Erde zweifach überzubenutzen, wie es zur Zeit geschieht, geht nur, indem wir unseren Lebensstandard gewaltig reduzieren.
Auf die Frage meiner Tochter an meine Mutter, wie die Frauen denn in der Vor-Waschmaschinen-Ära gelebt habe, erzählte sie: Das war nicht schlimm. Einmal im Monat wurde einen ganzen Tag lang nichts anderes getan als gewaschen. Das war's dann aber auch. Möglich war das deshalb, weil die Menschen damals nicht jeden Tag ihre Kleidung wechselten, nicht diese heute weitverbreitete Schweißphobie hatten und gleichzeitig sorgsamer mit ihrer Kleidung umgingen. Als ich 1989 in Portugal war, wusch meine deutsche Gastgeberin zusammen mit einer portugiesischen Bäuerin ihre Wäsche am Fluss. Ging auch, gut sogar!
Ich denke, dahin geht es wieder für uns alle: einfache, handfeste körperliche Arbeit. Dann erledigen sich auch die Fitnessstudios und ähnlicher Schnickschnack von selbst.
Marie-Luise - 11. Mai, 22:35

Eine Dauerkommentatorin ...
Ich stimme mit dir überein, was das "Wieder-In-Erscheinung-treten" des Wilden betrifft: Es macht sich entweder schlagartig und lautstark Platz - z.B. in der vielgerühmten Hysterie (die ja bekanntlich aus der "Hysteria", der Gebärmutter kommt!), heute eher in Psychosen, aber auch in den Allergien, in Depressionen - aber auch im einfachen Glück, dass dich aus dem Innen komend scheinbar grundlos überschwemmt. In den starken und zarten Äußerungen ist es zu Hause, so wie es den Schmetterling gibt, den Löwenzahnsamen und "daneben" den brodelnden Vulkan und den Tsunami.
Mit dem Schmetterling können wir ja noch umgehen, mit dem Tsunami - oder wie gerade eben wieder bewiesen - mit dem Vulkan schon weniger. Denn wenn diese Kräfte auf den Plan treten, die Kalikraft, der Mutteraspekt, der zerstört, was überkommen und überlebt ist, dann wird es uns schon mal ganz mulmig. Deswegen hegt und pflegt das Patriarchat ja auch so Übelkeits-erregende Schmalz-Mutter-Bilder: Damit wir vergessen, dass das Mütterliche eine Bedingungslosigkeit in jede Richtung hat/ist. Und glauben, dies sei eine feindliche Kraft, der Staubwolkenspuckende Vulkan, der Lämmerreissende Bär oder die Kinder-fressende Hexe im Wald.
Dabei ist es nichts weiter als die Notwendigkeit. Wo Leben lebt, braucht es den Tod, damit Leben leben kann. Ist ja eigentlich völlig logisch. So logisch eben wie das Wilde, das ja nur scheinbar dem Vernünftigen entgegen steht.
Für mich heisst Wild-werden daher, Grenzen überschreiten und auch einreissen - bzw. anerkennen, dass sie gelegentlich nur in meiner Vorstellung existieren. Denn Grenzen geben auch Sicherheitsgefühle, vor allem für unser verletzliches Ego. Und deshalb ist dein Bild so schön: Da, wo Weite entsteht, kann das Wilde Raum nehmen - auch wenn wir nicht immer sicher scheinen. Aber diese "Sicherheit" ist tatsächlich lediglich ein Austritt aus dem lebendigen Prozess - und das ist es, was uns wirklich bedroht. Denn was kann uns schon geschehen, außer das wir sterben und dahin zurück kehren, wo wir hergekommen sind?