Kolonialismus

Hallo Christine, du schreibst: "Die Mädchen in Tibet werden Schulen benötigen, um heraus zu finden, wie sie leben möchten. Um Alternativen zu Althergebrachtem entdecken zu können, muss mehr als die Tradition ins Wissen, ins Bewusstsein gelangen."
Auf die Gefahr hin, dich vor den Kopf zu stoßen: genau das meine ich mit Kolonialismus. Was bringen denn solche Schulen, von Weißen mit eurozentrischem und kapitalistischem Hintergrund eingerichtet, den Mädchen in Tibet für Alternativen bei: unsere westlichen Maßstäbe. Wissen wir, ob sie die brauchen? Nein, wir können nicht wissen, was sie brauchen. Wenn wir aber so tun, als wüssten wir es, handeln wir überheblich und übergriffig.
Ein Beispiel aus unserer eigenen Geschichte: wie kam es denn am 12. November 1918 dazu, daß die Frauen in Deutschland endlich das Wahlrecht bekamen?
Sie haben es sich selbst erkämpft. Sie haben aus sich selbst heraus "Alternativen zum Althergebrachten" entwickelt und dann auch die Energie gehabt, sie in die Realität zu bringen. Genau auf diese Weise ist in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts der Paragraf 218, der Schwangerschaftsabbrüche unter Strafe stellte, gekippt worden. Und so war es mit allen sozialen Veränderungen.
Die Auffassung, wir müssten den tibetischen oder afrikanischen Mädchen Schulen verpassen (die ihnen dann natürlich zwangsläufig die westlichen kapitalistischen "Werte" vermitteln und wie meine Freundin Astrid so trocken feststellte, "sie damit fit für den Herzinfarkt" machen), zeugt von einem tief verwurzelten Misstrauen gegenüber der Fähigkeit von Menschen, ihr eigenes Leben zu gestalten. Und genau dieses Misstrauen ist ein Leitsymptom unserer kranken westlichen Kultur.
Gut gemeint ist eben tatsächlich meistens das Gegenteil von gut.
Ich habe bei mir selbst und in meiner Arbeit mit Suchtpatienten so oft erlebt, daß die wirklichen Veränderungen nicht deshalb geschehen, weil äußere Institutionen oder Menschen Hilfe anbieten. Nein, sie geschehen, weil etwas im Inneren wächst, das immer lauter und schließlich unüberhörbar nach Veränderung ruft. Und dann kommt der Moment, wo das Leben mir entgegen kommt und hilft, diese Veränderung in die Welt zu bringen.
Welche kreativen Möglichkeiten Frauen anderer Kulturen entwickeln, um gegen Männergewalt und Unterdrückung vorzugehen, zeigt besonders schön die indische Gulabi Gang. Es lohnt sich, die mal zu googeln. Die Begründerin dieser in rosa Saris gekleideten Frauengang hatte schlicht die Schnauze voll vom Althergebrachten.
Marie-Luise - 9. Sep, 01:26
Astrid (Gast) - 9. Sep, 22:20
Hallo meine schöne Freundin,
danke, dass du mich immer noch und immer wieder in deinem Blog zitierst :-))) Ih muss dann immer lachen und freu mich, dass wir so eine Verbindung haben ...
Wenn ich deinen Text und den Kommentar von Christine lese, dann denke ich heute: Was denke ich eigentlich - heute - dazu? Interessant daran ist, dass ich mich gerade in einem ähnlichen Entscheidungsfeld befinde: Die Schulsituation hier in Portugal ist nicht sehr vielfältig und außerdem - von der öffentlichen Seite her - mehr als anachronistisch. Gleichzeitig gibt es nicht viel Alternativen. Unsere "Freie" Schule ist immer noch nicht genehmigt und so werden wir ein weiteres Jahr mit einer Interimslösung verbringen ... und in mir sind tausend Befürchtungen, dass Alina dann irgendwann wie eure zitierten tibetischen Mädchen "keine Wahlmöglichkeiten" hat weil sie keinen "offiziell" anerkannten Abschluß hat ... Tja.
Interessant ist für mich, dass ich in der Beobachtung meiner Selbst auf diese Fragen sehr viele Befürchtungen feststellen kann. Und nicht nur bei mir. Irgendwie klingt bei dieser ganzen Diskussion immer der Unterbau Angst durch: Mädchen, die in "rückständigen" Traditionen verhaftet bleiben, chancen(?)los sind, in Armut und hinter ihren geistigen Möglichkeiten enden werden ...
Gleichzeitig wissen wir, dass das Konzept "Schule", also die Idee, das Wissen etwas externes ist, eine intellektuelle Füllmenge, die "vermittelt" werden muss eine sehr klassisch westliche ist. Ein Konzept, das auf der Idee des Menschen als leerem Gefäß beruht welches angefüllt werden muss mit Richtlinien, Verhaltensvorschriften, Werten und Information. Wir wissen natürlich auch, dass Menschen, die - aus welchen Gründen auch immer - an diesem Konzept nicht partizipieren Können/wollen bestimmte Hürden zu überwinden haben. Wir wissen aber auch, dass gerade Frauen Weltmeisterinnen im sich "Bildung" aneignen sind - und dennoch nicht die gleichen Chancen haben. Was also tun? Denken?
Mir fällt an dieser Stelle immer Luisa Muraro ein, eine Differenzfeministin, die ja immer noch behauptet, dass es "Chancen-Gleichheit" nicht nur nicht gibt, sondern gar keinen Sinn macht - weil wir nicht gleich sind. Das gefällt mir persönlich gut, denn es entspricht meiner Erfahrung. Und - es eröffnet meiner Ansicht nach den Horizont in der "Bildungs-Gleichheits-Diskussion" um die Frage, wieso wir denn alle das Gleiche auf die gleiche Art und Weise lernen sollten, wenn wir nicht gleich sind, nicht gleiches wollen? Natürlich bedeutet das nicht, dass wir nicht alle ZUGANG zu Gleichem haben sollten - die Frage bleibt nur, ob es für uns denn gleich ist.
Ich finde dein Beispiel, Marie-Luise über die erste Frauenbewegung ziemlich treffend: Kein Mensch wäre auf die Idee gekommen, die Frau zu lehren, Anspruch auf Partizipation zu erheben. Und interessanter Weise ist die erste Frauenbewegung ja sowohl aus der bürgerlichen als auch aus der Arbeiterinnen-Schicht gekommen - also von Frauen, die mit Sicherheit in ihrer Bildung nicht gleich waren. Dennoch hatten sie ein gleiches Bedürfnis - aber zum Beispiel schon nicht mehr die gleichen Ziele.
Natürlich könnte eine jetzt sagen, es ist zynisch hier zu sitzen, mit einem Hochschulabschluß versehen und darüber zu sinnieren, ob es denn für alle Frauen gleichermaßen richtig und wichtig ist nach westlichen Standards aufgebaute Bildungssysteme zu durchlaufen und Schulabschlüsse zu machen. Stimmt. So ist es ja auch eben nicht an uns, das zu entscheiden. Entscheiden müssen die betroffenen Menschen - Frauen wie Männer - selbst. Und das ist die Frage, die mich interessiert: Was trägt dazu bei, diese Eigenmacht und Ermächtigung in menschen zu stärken? Angstfreiheit, denke ich mal. Weiß ich, aus meinem eigenen Leben. Welche Entscheidung also würde ein tibetisches, ein indisches, ein mosambiquanisches, ein deutsches, ein italienisches Mädchen treffen wenn sie wissen würde - und an den Frauen um sie herum erkennen könnte - dass sie die Wahl hat? Denn eine "Wahl" getroffen aus der Angst, ansonsten arm und sozial ausgegrenzt leben zu müssen - ist das eine "Wahl"?
Liebe Grüße (und viel Kraft und Liebe für das, was vor dir liegt!), deine Astrid
danke, dass du mich immer noch und immer wieder in deinem Blog zitierst :-))) Ih muss dann immer lachen und freu mich, dass wir so eine Verbindung haben ...
Wenn ich deinen Text und den Kommentar von Christine lese, dann denke ich heute: Was denke ich eigentlich - heute - dazu? Interessant daran ist, dass ich mich gerade in einem ähnlichen Entscheidungsfeld befinde: Die Schulsituation hier in Portugal ist nicht sehr vielfältig und außerdem - von der öffentlichen Seite her - mehr als anachronistisch. Gleichzeitig gibt es nicht viel Alternativen. Unsere "Freie" Schule ist immer noch nicht genehmigt und so werden wir ein weiteres Jahr mit einer Interimslösung verbringen ... und in mir sind tausend Befürchtungen, dass Alina dann irgendwann wie eure zitierten tibetischen Mädchen "keine Wahlmöglichkeiten" hat weil sie keinen "offiziell" anerkannten Abschluß hat ... Tja.
Interessant ist für mich, dass ich in der Beobachtung meiner Selbst auf diese Fragen sehr viele Befürchtungen feststellen kann. Und nicht nur bei mir. Irgendwie klingt bei dieser ganzen Diskussion immer der Unterbau Angst durch: Mädchen, die in "rückständigen" Traditionen verhaftet bleiben, chancen(?)los sind, in Armut und hinter ihren geistigen Möglichkeiten enden werden ...
Gleichzeitig wissen wir, dass das Konzept "Schule", also die Idee, das Wissen etwas externes ist, eine intellektuelle Füllmenge, die "vermittelt" werden muss eine sehr klassisch westliche ist. Ein Konzept, das auf der Idee des Menschen als leerem Gefäß beruht welches angefüllt werden muss mit Richtlinien, Verhaltensvorschriften, Werten und Information. Wir wissen natürlich auch, dass Menschen, die - aus welchen Gründen auch immer - an diesem Konzept nicht partizipieren Können/wollen bestimmte Hürden zu überwinden haben. Wir wissen aber auch, dass gerade Frauen Weltmeisterinnen im sich "Bildung" aneignen sind - und dennoch nicht die gleichen Chancen haben. Was also tun? Denken?
Mir fällt an dieser Stelle immer Luisa Muraro ein, eine Differenzfeministin, die ja immer noch behauptet, dass es "Chancen-Gleichheit" nicht nur nicht gibt, sondern gar keinen Sinn macht - weil wir nicht gleich sind. Das gefällt mir persönlich gut, denn es entspricht meiner Erfahrung. Und - es eröffnet meiner Ansicht nach den Horizont in der "Bildungs-Gleichheits-Diskussion" um die Frage, wieso wir denn alle das Gleiche auf die gleiche Art und Weise lernen sollten, wenn wir nicht gleich sind, nicht gleiches wollen? Natürlich bedeutet das nicht, dass wir nicht alle ZUGANG zu Gleichem haben sollten - die Frage bleibt nur, ob es für uns denn gleich ist.
Ich finde dein Beispiel, Marie-Luise über die erste Frauenbewegung ziemlich treffend: Kein Mensch wäre auf die Idee gekommen, die Frau zu lehren, Anspruch auf Partizipation zu erheben. Und interessanter Weise ist die erste Frauenbewegung ja sowohl aus der bürgerlichen als auch aus der Arbeiterinnen-Schicht gekommen - also von Frauen, die mit Sicherheit in ihrer Bildung nicht gleich waren. Dennoch hatten sie ein gleiches Bedürfnis - aber zum Beispiel schon nicht mehr die gleichen Ziele.
Natürlich könnte eine jetzt sagen, es ist zynisch hier zu sitzen, mit einem Hochschulabschluß versehen und darüber zu sinnieren, ob es denn für alle Frauen gleichermaßen richtig und wichtig ist nach westlichen Standards aufgebaute Bildungssysteme zu durchlaufen und Schulabschlüsse zu machen. Stimmt. So ist es ja auch eben nicht an uns, das zu entscheiden. Entscheiden müssen die betroffenen Menschen - Frauen wie Männer - selbst. Und das ist die Frage, die mich interessiert: Was trägt dazu bei, diese Eigenmacht und Ermächtigung in menschen zu stärken? Angstfreiheit, denke ich mal. Weiß ich, aus meinem eigenen Leben. Welche Entscheidung also würde ein tibetisches, ein indisches, ein mosambiquanisches, ein deutsches, ein italienisches Mädchen treffen wenn sie wissen würde - und an den Frauen um sie herum erkennen könnte - dass sie die Wahl hat? Denn eine "Wahl" getroffen aus der Angst, ansonsten arm und sozial ausgegrenzt leben zu müssen - ist das eine "Wahl"?
Liebe Grüße (und viel Kraft und Liebe für das, was vor dir liegt!), deine Astrid
Freiheit bedeutet für mich, die Wahl zu haben.
Selbst entscheiden zu können, in welche Richtung ich gehen möchte, welchen (Lebens)weg ich einschlagen möchte.
Um mich entscheiden zu können, braucht es mehr als nur eine Wahlmöglichkeit.
Ich muss von Alternativen wissen.
Wenn ich nur die tradierten Wege kenne, wie soll ich dann einen anderen wählen?
Das tibetische Hochland hat nicht die gleichen Möglichkeiten, wie z.B. eine indische Großstadt.
Auch wenn es dort schwer ist, kann man an Informationen gelangen.
Im Tibet stelle ich mir dies ungleich schwerer vor.
(Ich war selbst nie da, habe meine Meinung also nicht durch eigene Anschauung).
So kann die Schule ein erster Weg in die eigene innere Freiheit sein.
So wie auch ich das Schulwissen durch selbst Erworbenes ersetzt/ verquickt habe.
Doch das Fundament war gelegt. Ich konnte lesen und schreiben, mich unabhängig weiter bilden.
Wissen ist immer noch Macht. Diese Macht möchte ich keiner Frau vorenthalten.
Und vielleicht gäbe es ja eine Alternative zur kulturellen Indoktrination durch westliche Eingriffe.