Gewalt

Bevor Katharina am Samstag in den Zug stieg, waren wir im Zeitschriftenladen am Bahnhof. Ich habe mir, wohl zum ersten Mal in meinem Leben, eine Emma gekauft, weil mich das Hauptthema Sexualität interessierte. Gestern stieß ich auf einen Artikel über die Massenvergewaltigungen durch russische Soldaten am Ende des zweiten Weltkrieges. Das hat mich ziemlich aus dem Lot gebracht. Nicht daß es ein für mich neues Thema ist, aber die deutlichen Schilderungen brachten in mir ganz alte Wut und Fassungslosigkeit an die Oberfläche. Verglichen mit dem, was damals Millionen von Frauen zu erleiden hatten, sind meine eigenen Erfahrungen mit sexuellen Übergriffen "harmlos". Und dennoch: sie haben mich nachhaltig geprägt.
Ich erinnere mich daran, daß ich mit vielleicht dreizehn Jahren abends auf dem Weg zum Turnen von einer Gruppe von Jungen angehalten, festgehalten und meine sich gerade entwickelten Brüste äußerst grob betatscht wurden, dazu gab es hämische Kommentare: "Die hat ja nicht viel." Möglicherweise deshalb ließen sie bald von mir ab. Ich glaube, kein Mann, der nicht Vergleichbares erlebt hat, kann nachvollziehen, welche Verwirrung und Scham solche Ereignisse hervorrufen. Von einem auf den nächsten Moment war mein Vertrauen in das männliche Geschlecht nachhaltig erschüttert. Als ich das zu Hause erzählte, wollte mein Vater mich beschützen. Er warnte mich vor Männern und begleitete mich danach auf meinen Wegen. Er nahm mir damit aber auch meine Bewegungsfreiheit, weshalb es von dem Moment an erbitterte Kämpfe um meine Freiheit gab. Ein Selbstverteidigungskurs wäre effektiver für mich gewesen, gab es damals aber noch nicht für Mädchen. Heute verstehe ich meinen Vater: er hat als junger Soldat selbst im Krieg Dinge erlebt, von denen er nicht erzählt, aber gelegentlich Andeutungen macht. Er hat mir eine sehr negative Sicht auf sein eigenes Geschlecht mitgegeben. Ich habe viel unternommen, um mich mit dem Männlichen zu versöhnen. Aber solche Berichte reißen wieder alles auf.
Wie muß es erst den betroffenen Frauen gegangen sein: viele waren doch für den Rest ihres Lebens zu einer lustvollen Sexualität nicht mehr in der Lage.
Komme mir jetzt bitte keiner mit der Erklärung, daß Männer nun mal nicht ihren Trieb beherrschen könnten und durch ihr Testosteron einfach das aggressivere Geschlecht wären.
In den noch existierenden matriarchalen bzw. herrschaftsfreien Gesellschaften wie z.B. bei den Mosuo existiert noch nicht mal ein Wort für Vergewaltigung. So etwas gibt es da einfach gar nicht. Die kennen allerdings auch keine Kriege.
Marie-Luise - 31. Mär, 21:12
