Frost

Als ich heute abend nach der Arbeit auf das Thermometer am Küchenfenster sah, dachte ich erst an eine optische Täuschung. Aber nein, es sind tatsächlich mittlerweile -13°C. Ich habe es gar nicht als so kalt empfunden, als ich aus der Klinik zu meinem Auto gegangen bin.
Hier ist der Winter voll eingezogen. Heute morgen vor dem Dienst habe ich eine halbe Stunde Schnee geschippt und mein Auto abgefegt. Diese Arbeit machte meinen Kopf klar und frei.
Seit gestern habe ich eine Erkältung. Sie kam plötzlich, fast ohne Vorwarnung, außer daß ich schon seit Tagen kalte Füße hatte. Nun gut, ich bin so selten krank, mein Immunsystem braucht offensichtlich mal wieder ein bißchen Übung. Ich trank Ingwerwasser und machte vor dem Zubettgehen ein Kamillendampfbad, schlief unter zwei Decken und träumte von Nina Hagen.
Heute Nachmittag gab es auf der Station so viel zu tun, daß ich gar nicht dazu kam, mich krank zu fühlen: stockbesoffene, völlig fertige Menschen kamen zur Aufnahme und gingen nach wenigen Stunden wieder, wenn der Entzug einsetzte.
Mittags nach der Übergabe gab es ein Gespräch über das Thema Sucht: ist es eine Krankheit? Jedenfalls ist es etwas ganz Seltsames: eine Substanz tut einem scheinbar gut, erfüllt ein Bedürfnis, lindert einen Schmerz und dann - peu à peu wird eineR Sklave dieser Substanz. Es gibt keine freie Entscheidung mehr. Der persönliche Kern eines Menschen wird immer flacher, immer reduzierter, es gibt keine Weiterentwicklung mehr, und die einzige Beziehung, die noch bleibt, ist die zu der unfrei machenden Substanz.
Ich den Mechanismus von Sucht sehr gut: keine Macht der Welt hätte mich als jahrelange exzessive Raucherin umstimmen können. Wenn einer meiner Liebhaber mich vor die Alternative gestellt hätte, weiterzurauchen oder verlassen zu werden, hätte ich weitergeraucht, zur Not heimlich. Es war letztendlich etwas in mir, eine innere Führung, die mir dazu verholfen hat, daß ich meine Freiheit wieder gewann.
So ähnlich war es auch vor fast dreißig Jahren, als ich eine sehr quälende Eßstörung überwand. Der erste Schritt war die Entscheidung: das will ich nicht mehr! Der zweite das Eingeständnis: ich schaffe es nicht allein, wo finde ich Hilfe?
Die Hilfe kam damals in Form der Idee, eine Selbsthilfegruppe zu gründen und der Entschiedenheit, mich darauf einzulassen. Ich habe seitdem nie wieder Probleme mit dem Essen gehabt.
Ich will das nicht mehr! Ich schaffe es nicht allein. Wo finde ich die mir gemäße Hilfe? Das sagte ich mir auch 1986, im Jahr des GAUs von Tschernobyl, als ich mal wieder in eines meiner tiefschwarzen depressiven Löcher fiel. Zwei Wochen später hatte ich einen Therapeuten, mit dessen Hilfe sich innerhalb von zwei Jahren mein ganzes Leben auf eine unvorstellbare Weise änderte: ich dachte anders und begann Lust am Leben und an mir selbst zu finden. Im Nachhinein kann ich sagen, daß Depression sich wohl aus "falschem" Denken entwickelt.
Daß ich diesen Satz fand, der die Veränderung einleitete, war vielleicht ein Geschenk der Geister, jedenfalls nicht mein Verdienst. Daß die Therapie mir half, lebendig, lustvoll und frei zu werden, das verdanke ich sowohl meinem Therapeuten als auch meiner Bereitschaft, mich voll einzulassen.
Marie-Luise - 3. Jan, 22:14

Liebe Sabine,