Goldmarie und Pechmarie

Schlüsselblumen blühen im Dezember!
Weiterhin zwingen mich die Beschwerden, die sich in den Fehlstellungen meines Schultergürtels und in der Taubheit meiner Hände zeigen, mich neu einzurichten. Die Physiotherapeutin, bei der ich neuerdings in Behandlung bin, sagt ganz wenig, aber ab und zu streut sie Worte ein, mit denen ich was anfangen kann.
Zum Beispiel: "Die Schulter sitzt wieder richtig, aber die Strukturen sind noch da."
Die Strukturen, also die alten eingeschliffenen Pfade.
Eins meiner Lieblingsmärchen ist das von Frau Holle. Der Brunnen ist der Eingang in die andere Welt. Durch ihn geht es zur Holle, zu einer der Ahnfrauen der europäischen Urbevölkerung (die das alte Europa vor den patriarchalen Kelten und Germanen bewohnten). Der Gang in die Unterwelt ist eine schamanische Reise mit dem Ziel, Erkenntnis oder Heilung zu finden. Das Spinnen ist eine Tätigkeit, die tranceinduzierend wirkt und die Reise in die Unterwelt einleitet.
Die Brüder Grimm haben diese alten Märchen nicht nur gesammelt und niedergeschrieben, was ja an sich lobenswert ist. Sie haben sie auch ziemlich umgeformt und verfälscht und die Wertmaßstäbe ihrer Zeit (die sich von der unseren nicht so wesentlich unterscheiden) hineingeschmuggelt, so daß eine Moral herauskam.
Die Moral dieses Märchens: das fleißige Mädchen, das den ganzen Tag arbeitet und dient, wird am Schluss ihrer Reise mit Gold überschüttet, das faule Mädchen mit Pech. Also sei immer schön fleißig!
So habe ich dieses Märchen auch lange (miss)verstanden.
Aber mittlerweile, während ich mich mit meiner ein-ge-fleischten (wieder so ein tolles deutsches Wort, das für sich selbst spricht), weitgehend vorbewussten Leistungsbereitschaft befasse, sehe ich die Geschichte mit den beiden Maries in einem anderen Licht: es scheint sich um ein und dasselbe Mädchen zu handeln, die sich mal auf der hellen Tag- und mal auf der Nachtseite, im Arbeitsmodus und im Traummodus befindet, das Helle und das Dunkle, das Einatmen und das Ausatmen, das Wachsein und den Schlaf repräsentiert, eben alle Dimensionen des Lebens, weil eines nicht ohne das andere sein kann.
Ich wollte immer nur die Goldmarie sein, aber jetzt möchte ich lernen, auch die Pechmarie, also die dunkle Marie zu sein, die mit den Erlebnissen aus der Traumzeit an die Oberfläche zurück kommt. Und das geht nur, wenn sie die Hände in den Schoß legt und den durch langjährige Gewohnheit verhärteten Strukturen erlaubt, wieder weich zu werden.
Und siehe da: plötzlich ergeben sich in meinem Leben ganz neue Sachen.
Nachdem ich jetzt fast ein Jahr lang Tango lerne und die ganze Zeit nicht sicher war, ob das wirklich mein Tanz ist, hatte ich vor einigen Tagen das Glück, mit einem Mann zu tanzen, der es wirklich kann. Plötzlich war alles ganz leicht, die Ochos und andere Figuren, mit denen ich mich vorher abgemüht hatte. Und ich konnte den Körperkontakt und die gemeinsame Bewegung genießen und den Raum fühlen, den mein Partner mir für meine eigenen Bewegungen gab.
Ganz beschwingt fuhr ich in der Nacht nach Hause und wusste mal wieder: ja, das Tanzen ist doch mein Ding, dieses Bewegen im Flow ohne Gedanken, ohne Ziel, ohne Ehrgeiz. Ha!

Marie-Luise - 18. Dez, 22:24