Wahrnehmungsstörung

Ich habe mir die Internetpräsenz der Klinik für Psychiatrie der Uni Münster, in der ich zwölf Jahre gearbeitet habe, angeschaut, weil ich neugierig war, ob da wohl noch alte Bekannte sind. Ich bin ja schon seit 1997 nicht mehr da. Neugierig klickte ich den Button "Mitarbeiter" an - beschäftigen die etwa nur noch Männer? - und stellte fest, es waren ungefähr gleich viele Männer und Frauen aufgeführt. Geschlechtergerechte Sprache ist da also noch nicht in Gebrauch.
Noch mehr erstaunte mich allerdings, daß unter Mitarbeitern nur Ärzte, Psychologen und IT-Menschen auf geführt waren, also die wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen. Keiner vom Pflegedienst, keine Pflegedienstleitung, keine Ergotherapeutin, Physiotherapeutin, Pförtnerin geschweige den Putzfrau oder -mann. Also die ganzen Berufsgruppen, die die Basis dieses Betriebs bilden, bleiben unerwähnt.
Das spricht Bände: diese unerwähnten Menschen machen ja die Arbeit, ohne die wissenschaftliche Forschung gar nicht möglich wäre. Sie kümmern sich um die Patienten, versorgen sie, reinigen die Räume, machen Krisenintervention, oft unter vollem Körpereinsatz, verabreichen die von den Ärzten angeordneten Medikamente, gewährleisten, daß deren Studien durchgeführt werden, nehmen Telefonate an und leiten sie weiter usw. usw.
Oder habe ich da etwas falsch verstanden? Werden diese Arbeiten im Zuge der allgemeinen Sparmaßnahmen mittlerweile von den unter "Mitarbeitern" aufgeführten Personen erledigt?
Na ja, Scherz beiseite. Ich finde, daß diese Klinik sich mit dieser Art von Präsenz ein Armutszeugnis ausstellt. Ich glaube noch nicht mal, daß ein bewußtes Kalkül dahintersteht, sondern daß sich nur wiederspiegelt, daß die Menschen an der Basis dieses Betriebs in der Wahrnehmung der Verantwortlichen nicht vorkommen. Ums mal wissenschaftlich auszudrücken: ein Fall von Wahrnehmungsstörung.
Wo ich einmal dabei war, hab ich dann gleich noch die Seite der LWL-Klinik, das ehemalige Westfälische Landeskrankenhaus in Münster, wo ich meine Ausbildung zur Krankenschwester gemacht habe, angeklickt und siehe da: sie haben den Chefarzt in einer Reihe mit der Verwaltungs- und Pflegedienstleitung stehen, sogar mit einem netten Foto, und zu jeder Station werden brav die Namen der pflegerischen Leitung und deren Stellvertretung genannt.
Hallo, ihr Leitungsfuzzis von der Uni-Psychiatrie, schneidet euch mal eine paar Scheiben davon ab. Ich glaube übrigens, daß auch die Forschung geschmeidiger läuft, wenn die wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen die Arbeit des schlechter bezahlten Personals wahrnehmen und würdigen.
Als ich heute morgen meine jetzige Klinik - deren Internetpräsenz muß ich mir auch noch angucken - nach dem Nachtdienst verließ, hat mich der vielstimmige Gesang der Amseln so verzaubert, daß mir mein Ärger den Buckel runtergerutscht ist.
Marie-Luise - 30. Mär, 18:37
