Enge und Weite

Vor einigen Tage ist Christian Semler gestorben. Gestern geriet mir eine Taz in die Hände und ich konnte vier Seiten Nachrufe über ihn lesen.
Dabei machte ich eine Zeitreise ins Jahr 1973, als wir in Dortmund an einer verbotenen Demo teilnahmen und vor der Polizei flohen. Auf irgendeinem Platz stieg Christian Semler auf das Wellblechdach eines Fahrradschuppens und hielt eine flammende Rede. Ich weiß nicht mehr, worum es ging. Ich erinnere mich aber, daß er gestenreich und lustvoll redete. Christian Semler war der Mitbegründer der KPD, einer maoistischen Organisation, die 1970 ins Leben gerufen wurde und sich 1980 selbst auflöste. Ich gehörte einige Jahre zu ihrem Dunstkreis. Die KPD entstand im Nachhall der 68er Bewegung, Christian Semler war ein Weggefährte von Rudi Dutschke. Ich glaube, ihre Attraktivität für mich bestand darin, daß sie mit einfachen Wahrheiten handelte, klar Gut und Böse unterschied und eine Utopie anbot, die im fernen China angesiedelt war, dem Land der Hoffnung. Denn der Sozialismus à la DDR war doch recht unattraktiv, das merkte (fast) jedeR, der/die ihr einen Besuch abstattete.
Die Mitarbeit in einer der Organisationen, die der KPD nahestand, brachte damals viel Enge und Selbstausbeutung mit sich. Die "werktätigen Massen", um deren Befreiung es uns ja ging, hatten nicht so richtig Lust auf uns. Wir verwendeten ziemlich viel Zeit, um sie zu "agitieren". Das machte mir als einer der wenigen "Werktätigen" große Probleme, weil ich neben meiner Arbeit im Krankenhaus noch "Agit-Prop", Bücherstände, endlose Vorstandssitzungen, Lesen politischer Schriften, Schulungen, Demos, rote Fahnen nähen usw. zu tun hatte. Da war für so banale Sachen wie Schlaf und ein lustvolles Beziehungsleben kein Raum. Wir führten Stundenpläne, die auch schon mal dem "Vorsitzenden" zur Kontrolle vorgelegt werden mussten. Schlapp machen wurde nicht akzeptiert. Und persönliche Bedürfnisse hatte es nicht zu geben, wir befanden uns schließlich gerade kurz vor der Weltrevolution. Als ich dann schwanger wurde, ohne das vorher "politisch diskutiert" zu haben, wurde ich vom Vorstand der antiimperialistischen Organisation suspendiert. Und als mein Sohn da war, stellte sich schnell heraus, daß für Frauen mit Kindern kein Platz war in dieser Umgebung. Ich habe danach noch andere linke Organisationen ausprobiert, bis ich mit 28 Jahren komplett aus dieser Art der Weltgestaltung ausgestiegen bin.
Das hat meinem persönlichen Befinden ausgesprochen gut getan.
Mag sein, daß ich etwas süffisant klinge. Dennoch war diese Zeit eine wichtige Phase in meinem Leben. Diese Organisationen spiegelten mir mit ihrem Dogmatismus, ihrer Ignoranz gegenüber den banalen menschlichen Bedürfnissen nach Entspannung, Lust und zweckfreier Freude sowie ihrer Humorlosigkeit meine eigene Enge wider.
Durch die Erfahrung meines Totalitarismus habe ich gelernt, Totalitarismus, egal in welchem Gewand er auftritt, auf zehn Meilen gegen den Wind zu riechen. Und ich habe damals angefangen, Glaubensbilder über den Haufen zu werfen. Das tue ich ja immer noch und werde es vermutlich mein Leben lang tun. All diese festen Wahrheiten, die es zu geben scheint, an die wir uns klammern, bis wir sie ablegen können wie einen schweren Rucksack, immer wieder und wieder. Das Leben ist einfach zu groß, um es in ein griffiges Erklärungsschema zu pressen.
Zurück zu Christian Semler: ich weiß nicht viel mehr, als daß er irgendwann vor ungefähr zwanzig Jahren bei der Taz gelandet ist und dort ein angesehener und differenzierter Redakteur war. Offensichtlich ist es ihm gelungen, sein Denken über die Welt immer mehr zu weiten. Und er hat sich nicht wie so viele andere seiner/unserer Genossen gescheut, sich mit seiner K-Gruppen-Vergangenheit auseinanderzusetzen. In der Taz las ich, daß er geäußert haben soll, wie gut es sei, daß wir unsere damaligen politischen Ziele nicht erreicht haben.
Oh ja!
Gute Reise, Christian!

Marie-Luise - 17. Feb, 21:04
Gruß aus der Vergangenheit
http://politsekten.blogspot.de/2013/02/christian-semler-gestorben.html