Tod

Vor vier Tagen ist mein Vater gestorben, acht Tage nach seinem 89sten Geburtstag. Als meine Mutter mir vorletzte Woche sagte, wie es um ihn stand, bin ich nach Münster gefahren. Wir haben uns an seinem Bett im Krankenhaus abgewechselt, auch meine Kinder waren dabei sowie ein Freund und eine Freundin meiner Eltern. Sein Tod kam nicht überraschend - seit einem halben Jahr wurde er zunehmend gebrechlicher und sehr müde.
Während der vielen Stunden, die ich an seinem Bett saß, habe ich daran denken müssen, wieviel er in seinem langen Leben erlebt hat.
Ich selbst habe erlebt, daß es ein himmelweiter Unterschied ist, ob ich als Krankenschwester oder als Tochter Sterbende betreue.
In Münster fiel ich quasi aus der Zeit. Alle meine Routinen waren plötzlich nutzlos, meine übliche Strukturiertheit funktionierte nicht mehr. Statt wie gewohnt immer beschäftigt zu sein, gab es lange Stunden, in denen ich nur da saß. In den ersten paar Tagen musste ich immer wieder die Grenzen meiner Belastbarkeit ausloten: wie lange kann ich am Bett des sterbenden Vaters sitzen? Was brauche ich, um mich gut zu fühlen? Dabei wurde mir wieder deutlich, wie sehr ich (und wohl die meisten Menschen aus unserer Kultur) konditioniert bin, mich selbst zu übergehen. Es ist ja eine christliche Tugend selbstlos zu sein.
Ich glaube aber, daß ich nur gut für andere sorgen kann, wenn ich auch gut für mich selbst sorge. Das gelang mir dann nach einigem Rumprobieren ganz gut.
Was ich im Kontakt mit dem Sterbenden erlebte, kann und will ich an dieser Stelle nicht ausbreiten.

In der übrigen Zeit machte ich lange Spaziergänge durch das verschneite Münster, saß in einem Café gegenüber vom Dom und spürte die Energie dieses besonderen Platzes. Nicht ohne Grund haben hier auf dem Horsteberg um 700 die Sachsen gesiedelt. Ich kaufte schöne Alpaca-Wolle bei Voilà für meine nächste Strickarbeit und abends sah ich mit meiner Tochter und ihrem Freund Filme von Quentin Tarantino, u.a. "Inglourious Basterds" mit dem brillianten Christoph Waltz. Zwischendurch fragte ich mich, ob es wohl in Ordnung wäre, solche vergnüglichen Sachen zu machen, während der eigene Vater stirbt.
Seit zwei Tagen bin ich wieder zu Hause, in meinem stillen Dorf. Tauwetter hat eingesetzt, heute morgen klangen die Meisen schon nach Frühling. Ich merke, daß ich Zeit brauche, um alles Erlebte zu verdauen.

Marie-Luise - 28. Jan, 21:11