Donnerstag, 1. November 2012

Tödin

HTuNG-2012-037
Ich glaube, das Bild vom Sensenmann, dem Gevatter Tod, der Menschen unerbittlich vom Leben abschneidet, hat sich erst im Mittelalter entwickelt.
Davor war der Tod eine Frau, die die Seelen nach ihrem Gang über die Brücke in die Anderswelt freundlich in Empfang nahm. Wir finden diese Gestalt als Hel in der germanischen Mythologie und als Holle in den alten Märchen unseres Kulturkreises. Sie hütete die Seelen, bis sie bereit waren für ihre nächste Inkarnation.

Gestern hatte ich die Gelegenheit, eine tote Frau im Haus meiner Nachbarn S. und E. zu besuchen. Sie lebte dort seit etwa zwei Monaten, als klar war, daß sie ihre schwere Krankheit nicht überleben würde. Dort konnte sie die Ruhe und Geborgenheit finden, die wir alle uns wahrscheinlich für einen würdigen Übergang in die andere Welt wünschen.
Ich habe durch meine Arbeit schon einige Menschen sterben sehen. Im hektischen Betrieb eines Krankenhauses ist das selten würdig. Während meiner Zeit als Krankenpflegeschülerin habe ich wenigstens noch das eine oder andere Mal erlebt, daß Sterbende nicht allein gelassen wurden.
Mittlerweile ist der Tod zum größten Tabu geworden: in Krankenhäusern darf einfach nicht mehr gestorben werden. Denn wenn es geschieht, dann fährt die Schulmedizin alles an Apparaten auf, was die Medizingerätehersteller auf den Markt werfen, um ein Herz wieder zum Schlagen bringen. Da spielt auch das Alter keine Rolle. Es ist einfach nur gruselig. Aber die jungen KollegInnen lernen in der Krankenpflegeschule, daß ein ruhiges Sterbenlassen "unterlassene Hilfeleistung" ist. Eine Kollegin sagte mir sogar, daß sie meine Haltung nicht billigen könne, da ich ja eigenmächtig die Entscheidung über Leben und Tod eines Menschen treffe, wenn ich auf Reanimation verzichte.
Das sehe ich ganz anders: alle diejenigen, die reanimieren, was das Zeug hält (und glaubt bloß nicht, daß eine Patientenverfügung davor bewahrt!), treffen die Entscheidung, den natürlichen Gang des Lebens nicht zu akzeptieren.
Ein Anästhesist hat mich allerdings wieder beruhigt. Er sagte, daß das ganze Reanimieren gar nichts bringt, wenn ein Mensch sich fürs Sterben entschieden hat. Ich selbst habe es einige Male erlebt, daß ein Herz wieder zum Schlagen gebracht wurde, aber der Reanimierte dann nach einigen Wochen im Koma doch gestorben ist.

Die Frau, die bei meinen Nachbarn gestorben ist, lag ganz zart und friedlich in ihrem Bett. Sie hatte ein schönes Kleid und ihren Schmuck angelegt bekommen. Im ganzen Zimmer brannten Kerzen. Ich setzte mich mit einer Tasse von dem bereit stehenden Tee zu der Toten und war ganz verzaubert von der klaren und hellen Atmosphäre im Raum. Vor dem geöffneten Fenster stand ein Vogelhäuschen, in dem sich die Meisen tummelten. Ich sah in die weite Landschaft, die den Blick direkt in den leuchtend blauen Himmel lenkte. Diese Aussicht hatte die Sterbende gehabt. Von ihrem Bett aus hat sie auch den vollen Mond sehen können, bevor sie auf die andere Seite ging.
Mir kamen in diesem Zimmer die Tränen, und es war nicht Trauer. Ich habe diese Frau kaum gekannt und nur einige Male ein paar Worte mit ihr gewechselt.
Es war so überwältigend schön, hier sein zu können, in diesem liebevoll dekorierten Raum, ganz allein mit der Toten und in Stille und Frieden.

Es gibt ein gutes Buch von Erni Kutter: Schwester Tod. Ich kann es sehr empfehlen, weil es zu einer neuen/alten Sterbekultur animiert.
HTuNG-2012
KaraMa (Gast) - 2. Nov, 15:56

Liebe Marie-Luise. Ich danke dir, dass ich an deinen Gedanken, Gefühlen, deinem Tun teilhaben darf. Ganz besonders berührt hat mich dein aktueller Eintrag. Seit einiger Zeit beschäftige auch ich mich mit der Kultur des Sterbens und der Tödin. Dabei ist mir das (für mich beeindruckende Buch der Fährfrau Sabine Brönnimann aus der Schweiz "zugefallen". Wenn es dich interssiert ---es heisst:" Wenn die Zeit sich neigt. Eine Fährfrau begleitet bei Abschied, Tod und Trauer" Kösel 2012.
Liebe Grüsse in die Dunkelzeit. KaraMa

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