Mutter

Eine Alma mater-Schwester macht sich Gedanken, wie das gewalttätige Verhalten der Erde in Japan mit dem Bild einer Mutter zusammenzubringen ist.
Hier sind meine Überlegungen dazu (aus der Mail kopiert):
Ich glaube, daß wir ein sehr enges Bild vom Wesen einer Mutter und auch in diesem Bereich viel patriarchales Denken verinnerlicht haben. Die Mutter als die Sorgende, Fürsorgende, Gütige, Nährende usw. Aber in vielen, wenn nicht allen frauenzentrierten Kulturen hat es auch die Zerstörerin gegeben, die zu sich nimmt, was sie hervorgebracht hat und überhaupt nicht zimperlich in der Wahl ihrer Mittel ist. Sehr deutlich sehen wir das bei der indischen Kali, die den Tanz der Zerstörung tanzt und die eine Kette von Totenschädeln um den Hals trägt. Auch menschliche Mütter haben getötet, z.B. Neugeborene, wenn sie das für nötig hielten, weil sie ihr weiteres Überleben nicht sicherstellen konnten. Auch Schwangerschaftsabbrüche hat es wohl immer gegeben, übrigens auch bei Tieren (bei Ratten ist das sogar eine natürliche Funktion, daß sie Föten abstoßen können, nachdem sie sich mit einem neuen Männchen gepaart haben).
Und wenn wir auf uns selbst als Mütter sehen: welche von uns kann mit gutem Gewissen behaupten, sie wäre immer nur nährend, fürsorglich und mild mit ihren Kindern umgegangen? Ich jedenfalls nicht.
Ich glaube, wir neigen dazu, auf die große kosmische Mutter zu projizieren, was wir uns von einer idealen Mutter gewünscht und als Kinder nicht bekommen haben.
Wenn wir beim Bild der Erde als Mutter bleiben, dann sehen wir beides: die unglaubliche Fülle, die sie uns zur Verfügung stellt, und die Erdbeben, Wirbelstürme, Tsunamis, die menschliche und nichtmenschliche Lebewesen von jetzt auf gleich in den Tod reißen und bei den Überlebenden Trauer und Schmerz auslösen.
Warum sie das tut, können wir schlicht und einfach nicht verstehen, jedenfalls offensichtlich nicht, solange wir im "Aggregatzustand Mensch"existieren.
Da ich glücklicherweise keinen Fernseher mehr habe, konnte ich mir die Bilder aus Japan in der Zeitung und im Internet wohldosiert ansehen. So war ich vor dem medialen Overkill, den ich nach dem 11.9. erlebt hatte, relativ geschützt und konnte mein Entsetzen in erträglichen Grenzen halten. Eine Seite ist mein Mitgefühl mit den Japanern und den wilden Wesen in der Luft und im Wasser, die jetzt von der unaufhörlich strömenden uranischen Kraft getötet oder geschädigt werden.
Und dann gibt es noch ein anderes Gefühl in mir, das ich nur vage beschreiben kann: eine große Ehrfurcht vor den Kräften der Erde, die Erkenntnis, daß mein Leben oder das derjenigen, die mir am Herzen liegen, jederzeit zu Ende sein kann, und es deshalb auf den jetzigen Moment ankommt, die Gewissheit, daß ich nur sehr wenig weiß und verstehen kann.
Was die Radioaktivität angeht - ich nenne sie uranische Kraft - die ist jetzt aus ihrem Gefängnis ausgebrochen, in das Menschen sie um der Stromerzeugung willen gepfercht haben. Da bekommen wir sie nicht wieder rein. Es ist wie mit dem Geist aus der Flasche. Wir sehen an den vergeblichen Bemühungen der Firma Tepco, was wir ja alle schon längst seit Tschernobyl wissen, daß diese Kraft nicht zu beherrschen ist. Keine Ahnung, was das langfristig für uns alle bedeutet. Aber es wird etwas mit uns machen. Vielleicht wird es uns alle töten. Vielleicht wird es den Bewußtseinswandel, den viel beschworenen Paradigmenwechsel anstoßen, auf den wir so sehnsüchtig warten. Und wieder kommt alles ganz anders, als wir uns das vorgestellt haben (wenn wir es uns vorgestellt haben). Was auch immer geschehen wird, ich werde es annehmen, das spüre ich. Und ich bin dankbar, in dieser so schönen und so schrecklichen Zeit leben zu dürfen. Da ich mir sicher bin, daß Leben immer weitergehen wird (wenn auch nicht in dieser menschlichen Form), bin ich gelassen, offen und heiter.
Und den Schafen vom Gut Lammershagen scheint das ähnlich zu gehen.

Marie-Luise - 6. Apr, 21:56