Gier

Wenn ich bei anderen Menschen Gier diagnostiziere, ist es ja nur fair, mal bei mir selbst zu gucken.
Das fiel mir heute ein, als ich mit meinem frisch reparierten Fahrrad (ja, ich habe den nach unten rutschenden Sattel tatsächlich selbst feststellen können, ha!) endlich mal wieder eine richtige Tour machen konnte. Ich fuhr zur Kiesgrube mit vielen Plänen: die Runde für den nächsten Kräuterkurs auszukundschaften und Beifuß und Johanniskraut für meine persönliche Medizin zu sammeln. Während ich durch dieses einzigartige Biotop streifte, erstaunliche Pflanzen entdeckte und mich freute, fiel das viele Wollen aus mir heraus.
Es ging erst mal nur ums Wahrnehmen und Genießen der Vielfalt. Irgendwann stand ich vor dem Johanniskraut und wußte, daß ich nur eine Pflanze sammeln würde. Nur so konnte ich ihr und meiner Wahrnehmung genügend Raum geben.
Ich habe einen Satz von Gertrude Ernst-Wernicke in Erinnerung: "Eine Pflanze wirkt durch unsere Absicht." Wenn ich zehn Kräuterbücher lese, finde ich mindestens zwanzig verschiedene Wirkungsweisen. Nehme ich dann noch Hildegard von Bingen dazu, scheint mir, daß die Pflanzen im Mittelalter eine gänzlich andere Wirkung als heute hatten.
Heilpflanzen sind eben keine standardisierten Medikamente, sondern Lebewesen. Und als solche reden sie nicht mit jedem. Manche scheinen auch launisch zu sein. Und ganz sicher hat der Bewusstseinszustand beim Sammeln und Zubereiten der Medizin einen Einfluss auf ihre Wirksamkeit.
Und gleichzeitig kenne ich den Impuls, ganz viel von einer Pflanze haben zu wollen, zu horten. Dem gebe ich jetzt immer weniger nach. Dabei hilft, daß ich einfach nicht viel Platz zum Lagern habe.
Beim Beifuss-Schneiden sang ich und wurde dabei von einem kleinen Vogel begleitet, der vor mir herflog, sich immer wieder auf einen Ast setzte und sein Lied sang. Und ein Kiebitz drehte mit klagenden hellen Lauten seine Runden über mir, als wolle er mir deutlich machen, daß ich in seinem Revier bin. Eine Lerche sang herzergreifend, und ich fühlte mich wieder in meine Kindheit, auf die sommerlichen Felder im Solling zurück versetzt.
Als ich die Kiesgrube verließ, mußte ich mich einfach umdrehen und bei all den Wesen bedanken, daß ich ihr Reich betreten durfte.

Marie-Luise - 22. Jul, 22:07