Glaubenssätze

Vor fast dreißig Jahren haben wir in kleiner und lebhafter Frauenrunde in meiner Küche in Münster oft Tarot gelegt, und jede hat erzählt, was sie in den Karten sieht. Dann haben wir die Deutungen aus den Büchern von Hans-Dieter Leuenburger (Schule des Tarot) gelesen. Ich fand die Verbindung, die er zur Kabbala zog, interessant, habe damals überhaupt alle Informationen zum Tarot aufgesogen, aber er war mir auch immer zu dogmatisch, zu streng.
Heute lege ich mir einmal im Jahr, um Allerheiligen herum, die Karten und verlasse mich nur noch auf meine eigenen Deutungen.
Vor einer Woche haben wir das Ritual zum Ahninnenfest im Freien gefeiert, im Dunkeln begleitet von den aufmerksamen Wasservögeln. Ich hatte das Gefühl, sie kennen uns mittlerweile schon und sind neugierig auf unsere Gesänge und das Trommeln und Rasseln. Die Lichterschiffchen konnten wir nicht aufs Wasser setzen, es war schon für den Winter abgelassen. Also setzten wir sie in den Schlick. Da leuchteten sie wohlig und geheimnisvoll.

Der November wird von den meisten Menschen als trüber und deprimierender Monat gesehen. Nicht von mir: gerade dieses Jahr finde ich ihn besonders schön. Es blühen immer noch Stockrosen, jeden Tag kann ich einige von meinen kleinen üppig wuchernden Wildtomaten ernten, und ich fühle mich einfach in meinem Element. Vielleicht, weil es mein Geburtsmonat ist. Der November lädt dazu ein nach innen, in die Tiefe zu gehen. Das finde ich schön. Und gleichzeitig sehe ich die Schönheit draußen, die leuchtenden Wälder, den strahlenden Himmel, die Kraniche und Wildgänse, ich höre den Brunftschreien der Damhirsche zu und finde eine kleine Grille vor der Haustür. Gestern Nacht leuchtete der Vollmond durch den Nebel als ich nach Hause kam. Es war unglaublich still, nicht mal das Käuzchen rief.

Mein Yoga-Lehrer hat vor kurzem mit Augenübungen angefangen, um seine beginnende Altersweitsichtigkeit aufzuhalten. Er erzählte mir von den vehementen Reaktionen seiner Mitmenschen. Sie behaupten, daß es nicht möglich ist, daß dieser natürliche Alterungsprozess beeinflusst werden kann, finden die Augenübungen Scharlatanerie usw. Ähnliches habe ich auch gehört, als ich mit Mitte Vierzig anfing meine Augen zu trainieren. Ich hatte schon während der Zeit der Körpertherapie die erstaunlichen Wirkungen der Atem- und Körperarbeit auf meinen Gesichtssinn erlebt und hatte von daher keinen Zweifel an der Wirksamkeit der Übungen.
Erst im letzten Jahr, als ich am Sterbebett meines Vaters bei minimaler Beleuchtung Schwierigkeiten mit dem Lesen bekam, habe ich mir eine Fertigbrille mit der geringsten Dioptrienzahl gekauft. Die benutze ich gelegentlich, wenn meine Augen müde sind oder die Beleuchtung zu wünschen übrig lässt.
Ich mache immer noch täglich Augenübungen, es lohnt sich einfach.
Warum halten Menschen an ihren Glaubenssätzen fest, z.B. "Sehstörungen sind nicht zu beeinflussen". Ein Glaubenssatz, der mir jahrelang von den verschiedensten Menschen vorgehalten wurde, denen ich erzählte, daß Krieg erst seit etwa 6000 bis 8000 Jahren auf dieser Planetin existiert, ist: "Krieg hat es immer gegeben." All meine Quellen und Gegenbeispiele wurden vom Tisch gewischt, es bestand gar kein Interesse daran, sich mit ihnen zu befassen.
Warum diese Vehemenz? Was hat eine/einer davon, zu glauben, daß es immer schon Krieg gegeben hat? Oder daß es keine Möglichkeit gibt, Fehlsichtigkeiten auf natürliche Weise zu korrigieren? Letzteres kann ich sogar noch ein bisschen verstehen: Fehlsichtigkeit scheint oft etwas mit dem Wunsch zu tun hat, nicht alles ganz genau zu sehen. Es mag biografische Gründe für das Vermeiden geben und gerade die Kurzsichtigkeit scheint viel mit tiefsitzender Angst zu tun zu haben. Da ist die Brille vielleicht auch ein Schutz. Aber sie ist halt auch eine Krücke, die die Augen einengt und unflexibel macht.
In den 70er Jahren bin ich oft dem von Männern geäußerten Glaubenssatz begegnet: "Frauen sind immer unten gewesen und werden es auch immer bleiben, weil das ihre Natur ist". (Damit war nicht die Missionarsstellung gemeint, jedenfalls nicht in erster Linie ;-))
Ändern konnte sich nur was, weil wir Feministinnen das anders gesehen haben.
Ich will mich übrigens nicht von Glaubenssätzen freisprechen: auch ich habe in meinem Leben schon den einen oder anderen fallen lassen (müssen). Vielleicht komme ich mal irgendwann ganz ohne aus, das wäre doch der Gipfel der Freiheit.
Marie-Luise - 7. Nov, 22:18