Aufgewühlt

Ich kann nicht schlafen, bin aufgewühlt von Telefonaten, die ich nach der Arbeit geführt habe. Seit ich aus der Rhön zurüclk bin, überfluten mich seltsame und erschreckende Nachrichten, die verdaut werden müssen.
Ich habe von der schweren Krebserkrankung eines Menschen aus meinem näheren Umfeld erfahren. Auch wenn es vor einigen Wochen schon eine deutliche Ahnung davon gab, war die Bestätigung dann doch ein Schock für mich. Für mich heißt es jetzt auch, Entscheidungen zu treffen, in welcher Weise ich dem Betroffenen beistehen möchte.
Mehr kann und will ich nicht darüber berichten.
Etwas anderes bewegt mich auch:
Gestern hat sich für mich in meinem Arbeitsbereich etwas auf sehr konkrete Weise bestätigt, was ich schon seit längerem immer deutlicher sehe. Daß es nämlich das sogenannte Gesundheitswesen wirklich sehr krank ist. Das gilt wohl für die meisten, wenn nicht alle Kliniken in Deutschland, ja für den ganzen Bereich, der damit verknüpft ist. Es geht wirklich nur noch um Geld. Und wenn das zu fehlen droht, dann wird es an den Berufsgruppen eingespart, die ohnehin schon das kümmerlichste Gehalt, teilweise sogar unter Mindestlohn, bekommen, also an Pflege- und Reinigungspersonal und Ergotherapeuten, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Nicht eingespart wird hingegen bei den Herren und Damen (letztere sind aber noch in der absoluten Minderzahlt) in den oberen Etagen, den Anzugträgern, die sich nie die Hände schmutzig machen und die politischen Entscheidungen treffen. Die bekommen Gehälter, die so extrem hoch sind, daß mir schleierhaft ist, wofür man soviel Geld ausgeben kann.
Nun gab es gestern die Gelegenheit zu einem Gespräch, ich möchte es eher Wortwechsel nennen. Denn dabei wurde mir klar, daß es keinem der Verantwortlichen um gute Arbeit, um Qualität geht. Der Patient und seine bestmögliche Versorgung war überhaupt nicht das Thema. Das ist die Realität heute.
Ich kann das beurteilen, weil ich seit vierzig Jahren in der Pflege arbeite. Gemessen an heute arbeiteten wir mit vorsintflutlichen Mitteln, hatten noch kein Einmalmaterial, mussten viel mehr putzen, hatten keine Desinfektionsmittel, wuschen uns damals aber auch ständig die Hände, was heute gänzlich aus der Mode gekommen ist. Gleichzeitig hatten wir viel mehr Zeit für die Patienten, für menschlichen Kontakt. Heute sitzen wir immer länger am Computer, der Patientenkontakt beschränkt sich demgemäß auf das Allernötigste. Was ich gelernt habe, immerhin habe ich eine Fachausbildung, kann ich gar nicht mehr anwenden - keine Zeit. Jede politische Reform hat es in den letzen zwanzig Jahren nur noch verschlechtert.
Gestern sah ich plötzlich glasklar, daß zwischen denen, die gerne gute Arbeit machen und mit Menschen angemessen und würdig umgehen wollen und denen, die in den allerhöchsten Etagen leben, kein Gespräch möglich ist. Da gibt es keine Brücke, keine Verständigung, da stoßen zwei so diametral entgegengesetzte Denkweisen zusammen - da geht nichts!
Wenn ich ein Krankenhaus als lebendigen Organismus sehe, dann ist also der Kopf, die Leitung völlig getrennt von der Leber, dem Herzen, dem Darm usw., also dem Pflegepersonal, den (nichtleitenden) Ärzten, den Reinigungskräften, den Physio- und Ergotherapeuten, den Bürokräften... Und es scheint, als wüchse in diesem Kopf ein Tumor, der immer größer wird und über kurz oder lang den ganzen Organismus umbringen wird.
Ich vermute, daß der Hauptbeweggrund für dieses ständige Kreisen um Geld Angst ist. Und je mehr Geld es zu behüten gibt, desto größer muss doch die Angst werden.
Meine Tochter kam vor Jahren mal mit einer Tabelle aus der Schule und zeigte uns ganz erschreckt, daß mein damaliger Mann und ich als Krankenpflegekräfte zur Unterschicht gehörten, wegen unseres niedrigen Gehaltes. Ich sagte ihr: "Ich bin froh, daß ich zur Unterschicht gehöre, da beute ich keine anderen Menschen aus."
Es scheint mir unumgänglich und lohnend, Selbsthilfekeimzellen zu bilden, parallell zu den Einrichtungen des offiziellen "Gesundheitswesens". Wir können uns auf unsere eigene Kraft besinnen und Heilweisen neu träumen.
Denn unsere Gesellschaft krankt an einer besonders aggressiven Krebsart: der Ideologie vom ständigen Wachstum, dem Kapitalismus.
Da lese ich in der Zeitung, daß auf der A1 ein Kind zur Welt gekommen ist, weil die Mutter den langen Weg von Fehmarn nach Lübeck zur Entbindung machen musste. Die geburtshilfliche Abteilung des Oldenburger Krankenhauses hat nämlich vor kurzem dichtgemacht. Hebammen können von ihrem Gehalt nicht mehr leben, weil die Versicherungsbeiträge unbezahlbar geworden sind.
Auch solche Vorkommnisse sehe ich als Aufruf zur Selbsthilfe: wie sind denn früher die Kinder zur Welt gekommen? Da gab es erfahrene Frauen, die bei den Geburten zur Seite standen.

Marie-Luise - 4. Sep, 01:26