Dunkle Zeit

Meine Tochter war zehn Tage lang bei mir, um in Ruhe an ihrer Examensarbeit zu schreiben.
Ich habe mich ja in meinem Alleinleben so gut eingerichtet, daß ich manchmal zweifle, ob ich überhaupt noch in der Lage und willens bin, mit einem anderen Menschen meinen Raum zu teilen. Aber mit ihr war es so einfach und angenehm. Wenn ich aus der Klinik kam, war die Hausarbeit erledigt, und wir konnten uns etwas erzählen. Wir machten Spaziergänge und wurden Zeuginnen der Damhirschbrunft. Wir kochten gemeinsam. Und ansonsten machte jede das, was sie gerade wollte und für sie anlag. Mir ist natürlich klar, daß es mit Katharina einfach ist, weil ich mit ihr seit ihrer Zeit in meinem Schoß vertraut bin. Mit einem Nicht-Verwandten ist es sicher ganz anders, und möglicherweise hätte ich da wieder dieses unaufschiebbare Bedürfnis für mich zu sein.

Am Sonntagabend feierten wir zu Viert unser Ahninnen-Ritual. Von allen Jahreskreisfesten hat ausgerechnet dieses immer etwas Chaotisches, Wildes, Unberechenbares.
Dieses Mal verirrten wir uns in dem Wald, den wir schon so oft durchquert haben, um zu unserem schönen Platz am Vogelsee zu kommen. Es regnete, um uns herum waren unüberwindliche Brombeerhecken und von den Wildschweinen aufgeworfener Erdboden. Der Schein der Taschenlampen half kaum. Schließlich entschieden wir, an Ort und Stelle unser Ritual zu machen. Es wurde eine Kurzform daraus. Wir vergaßen das Räuchern (wäre wahrscheinlich bei dem Regen auch schwierig gewesen)und stritten anschließend, in welcher Richtung wir den Rückweg antreten sollten.
Aber als wir dann am Küchentisch zusammensaßen und aßen und erzählten, wurde es gemütlich und lustig.
Keine Ahnung, was die Ahninnen mit diesem Verwirrspiel bezweckten: vielleicht wollten die wilden Wesen am See ihre Ruhe haben.
Vielleicht ist es auch gut, für die dunkle Zeit einen leichter zugänglichen Platz zu finden.
Marie-Luise - 1. Nov, 23:06