Blickwinkel

Heute morgen wachte ich auf und hörte vor meinem Schlafzimmerfenster das zärtliche Plaudern eines Schwalbenmännchens. Bevor ich mittags zum Dienst fuhr, erlaubte ich mir eine halbe Stunde an meinem Platz an der Schuppenwand, hörte den Raben zu, sah die Schwalben durch die Luft flitzen, freute mich über die ersten geöffneten Holunderblüten, naschte bittere Löwenzahnblätter (gut für Stimmung und Leber) und fühlte mich mal wieder einfach nur vom Leben beschenkt.
Wie lange habe ich gebraucht, um so zu fühlen!
Ich habe einiges dafür getan, um soweit zu kommen, das habe ich an anderer Stelle in diesem Blog bereits erzählt. Und dennoch hätte ich mir vor zehn, zwanzig Jahren nicht vorstellen können, daß Glückseligkeit sich so anfühlen kann.
Es sind die einfachen Dinge, und dazu gehört auch, daß meine Kollegin und ich heute Nachmittag auf der Station zusammen mit den Patienten das Fußballspiel Deutschland - Serbien schauen konnten. Ich bin kein Fußballfan, aber das war nett. Ich mag gern wohlgeformten Männern zusehen, die sich schön bewegen können.
In meinem Umkreis gibt es zwei Frauen, die offensichtlich nicht in der Lage sind, das Schöne in ihrem Leben zu erkennen. Ich fühle mich in ihrer Gegenwart schnell angestrengt, vielleicht weil ich mich bemühe, ihnen einen anderen Blickwinkel zu zeigen. Einer gab ich gestern Abend einen ungebetenen Rat, wo sie mit ihren chronischen Gelenkproblemen Hilfe finden könnte. Dann verstand ich, daß sie keinen Rat und keine Hilfe, sondern uns anderen ausführlich über ihre Beschwerden berichten wollte.
Erst ärgerte ich mich, dann erinnerte ich mich an mich selbst aus meinen depressiven Zeiten: wie habe ich damals meinen Mitmenschen das Leben schwer gemacht, besonders denen, die mir sehr nah standen. Depression ist absolute Selbstbezogenheit, da gibt es kaum Raum für Anderes und Andere. Kein Argument, kein Rat, keine Freundlichkeit kann eine da rausholen. Und zwar deshalb nicht, weil die/der Depressive das gar nicht will. Auf eine verdrehte Art steckt die ganze Lebenskraft ja in der Depression. Das ist eine Art Selbsthypnose, eine immer wiederholte Geschichte des Mangels: ich habe das und das nicht bekommen, ich bin als Kind schlecht versorgt worden, ich bin ganz arm dran, und jetzt erkannt das verdammt noch mal endlich an, statt mir das wegzureden.
All das ändert sich, wenn der Blickwinkel auf das eigene Leben geändert wird, das ist ein aktiver Akt, dem eine Entscheidung vorausgeht.
Als Außenstehende kann ich also nur akzeptieren, daß es um mich herum Menschen gibt, die diesen anderen Standpunkt noch nicht einnehmen wollen/können, vielleicht sogar Mitgefühl entwickeln, weil ich diesen unangenehmen Zustand ja selber kenne (und mich verdünnisieren, wenn es mir zuviel wird).
Werte Tochter, auf den Schunkelfotos (sie sind nicht hier im Blog) sind Evelyn, Andrea und ich. Grüße nach Münster!
Marie-Luise - 18. Jun, 22:54
