Dienstag, 25. Mai 2010

Traumzeit

Walpurgis-2010-059
Liebe Evelyn, ich kann mir denken, daß deine Assoziationen zu "wild" in Richtung zügellos, bewegt, vielleicht auch laut gehen. Daß eine still und wild sein kann, passt nicht so recht in unsere Vorstellungswelt.
Ich habe mal im etymologischen Wörterbuch nachgeschlagen: "wild" wird da in Verbindung gebracht mit "ungezähmt", und es wird vermutet, daß es mit "Wald" verwandt ist. Das macht für mich Sinn: das Wilde lebt im Wald, auf der anderen Seite ist das Zivilisierte, das Kultivierte, dem der Mensch seine eigene Ordnung übergestülpt hat.
Der Ausdruck "wilde Zeit" kam mir morgens beim Aufwachen. In diesem Moment wußte ich ganz klar, daß ich mir möglichst jeden Tag einen Zeitraum gönnen sollte, der völlig unverplant ist, eine Zeit des Nicht-Tuns, in der alles möglich ist. Da ich als sehr strukturierter und viel arbeitender Mensch dazu neige, meinen ganzen Tag mit Tätigkeiten zuzupflastern, ist das wirklich was Neues.
Einfach stillsitzen und gucken, was kommt. Kein Buch vor die Nase, kein Strickzeug in die Hände nehmen.
Bei vielen Tieren kann man dieses Verhalten beobachten, besonders schön bei Katzen.
Aber ich könnte diese Zeit auch "Traumzeit" nennen, in Anlehnung an die Traumzeit der australischen Aboriginals. Nach deren Weltbild wird alles ins Leben geträumt, was ist. Und alles, was lebt - Erde, Steine, Pflanzen, Tiere und Menschen träumen, was sich dann irgendwann materialisiert. Das Träumen erhält also das Leben. Wolf-Dieter Storl schreibt in seinem Buch "Das Herz", daß in unserer Zivilisation das Fernsehen der Ersatz für die Traumzeit ist. Ein schlüssiger Gedanke, finde ich.
In den Zeiten, in denen ich noch starke Raucherin war, bedeutete jede Zigarette eine Auszeit - Traumzeit - wilde Zeit in meinem mit vielen Verpflichtungen vollgepackten Alltag. Auch das Kiffen hatte für mich lange diese Funktion.
Interessant finde ich, daß in unserer Kultur, die Arbeit, Effektivität, Fleiss anbetet, ein Teil der Menschheit sich kaum oder gar keine Traumzeit gönnt, während ein anderer Teil den ganzen Tag als sogenannte Penner abhängt. Der Gesamtorganismus Gesellschaft holt sich seine Traumzeit, so wie der menschliche Organismus sich seinen Schlaf holt.
Für mich ist es jedenfalls eine Herausforderung, mir diese Traumzeit zu genehmigen und weil sie jenseits meiner gewohnten Zeitordnung und Konditionierung liegt, eine "wilde Zeit".

Auf dem Foto ist meine neue Feuerstelle zu sehen.

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